Die Legende lockt Biker aus aller Welt

Die Jukebox, ein aufgemotztes Motorrad und viel jugendlicher Leichtsinn. Das waren auf einen einfachen Nenner gebracht die Haupt-Ingredienzien, die einer simplen Raststätte im Londoner Stadtteil Stonebridge zu Weltruhm verhalfen, zumindest unter Bikern. Alkohol wurde dort in den 1950ern keiner ausgeschenkt, das Lokal – das 1938 erstmals seine Pforten öffnete, im 2. Weltkrieg zerstört wurde und 1947 wiedereröffnete – sollte Schichtarbeiter der nahen Fabriken, Trucker und Durchreisende 24 Stunden am Tag mit Tee und Speisen versorgen. Doch schon bald wurde das Ace Cafe (ohne é) zur "Heimat" der Rebellen auf zwei Rädern, die sich ihren Kick in Rennen gegen die Uhr oder besser: gegen die Jukebox (!) holten. Solange Johnny Kidd & The Pirates aus dem Wurlitzer plärrten, hatten die Jungs Zeit, die North Circular Road Richtung Norden zu heizen, unter den Gleisen durch bis zur Shell-Tankstelle und wieder retour. Wer vor Ablauf des Musikstücks wieder zurück war, heimste als Könner Respekt und Wettgewinne ein, Kurvenparker, die erst nach dem Schlussakkord der Single kamen, ernteten Spott und Häme. Nicht wenige bezahlten damals ihren Wetteinsatz mit dem Leben. In dieser Zeit wurden die Cafe Racer geboren, die den damaligen Wettbewerbsmaschinen der Isle of Man Tourist Trophy nachempfunden, auf jegliches Schnickschnack wie Spiegel oder andere ohnehin nur gewichtmaximierende Anbauteile verzichteten: Stummellenker, Drehzahlmesser, Einzelsitzbank mit Höcker, (ein am besten polierter) Alutank, ausgeräumter (je lauter, desto besser) Sportauspuff  – mehr brauchten die "Ton-up-Boys" nicht, um glücklich zu sein.

Außer natürlich das erhebende Gefühl, auf der kurzen Strecke die 100-Meilen-Geschwindigkeitsmarke, "the ton", zu knacken…

…irgendwann waren ihnen die berüchtigten Rennen aber nicht mehr genug, entwickelte sich aus den Jungs, denen der Rausch der Geschwindigkeit lange alles gewesen ist, eine neue Szene. Die Rocker vom Ace Cafe lieferten sich regelmäßig wahre Schlachten mit den zur selben Zeit ebenfalls boomenden Mods, die durch feines Gewand sowie ihre mit Spiegeln und Lampen vollgepflasterten Lambretta- bzw. Vespa-Rollern auffielen. Meist traf man sich Samstags im Seebad Brighton zur allwöchentlichen Massenschlägerei. Mitte der 1960er Jahre erreichte die Gewalt ihren Höhepunkt, war England geschockt von den Rockern und das Ace Cafe wurde immer mehr gemieden, die Geschäfte gingen schlecht, ehe es schließlich 1969 seine Pforten schloss.

Soweit mein kurzer Exkurs in die Vergangenheit dieses geschichtsträchtigen Orts an der North Circular Road. Mehr als 30 Jahre später wurde das Ace Cafe, das in der Zwischenzeit die Reifenfirma Just Tyres beherbergt hatte, im Jahr 2001 mit Pauken, Trompeten sowie an die 30.000 Bikern aus allen Teilen Englands wieder eröffnet und seither zu einer Art Pilgerstätte für Motorradfahrer bzw. Motorsportbegeisterte jeglichen Couleurs. "That's the place to be“, begrüßte mich ein alter, weißbärtiger Brite, als er mich an diesem frühen Oktober-Abend mit dem iPhone eifrig Fotos machen sah, und hob dabei den Daumen hoch. Die gelbe Triumph Thruxton direkt vor dem Eingang geparkt, erweckte er von seinem gesamten Erscheinungsbild den Eindruck, als ob er schon damals hier Stammgast war, als die Gangart am Ace Corner noch rauer gewesen ist. Sie haben sich längst an die Touristen, mit oder ohne Motorrad, gewöhnt, die schließlich auch dafür sorgen, dass ihr "Ace" wieder lebt.

Touristen wie Rick aus San Diego, der uns stolz ein Foto zeigte, wie er mit seiner Triumph Thunderbird, Jahrgang 1952, daheim in Kalifornien unterwegs ist. Es war sein allererstes Motorrad, dem er immer noch verfallen ist und das er neben seiner BMW für alle Tage regelmäßig bewegt. Klar, dass er – zum ersten Mal in seinem Leben im Ace Cafe – dem Ort, wo alles begann, mit Ehrfurcht begegnete.

Natürlich darf auch heute die Jukebox nicht fehlen, erinnert im inneren des Ace Cafes jeder Winkel an die legendäre, längst vergangene Zeit. Die meisten Abende stehen unter einem Motto, als ich mit Sozia vor Ort war, hieß dieses "Brit Bike Night" und war Motorrädern der Marken Triumph, Norton oder Royal Enfield gewidmet, am Tag davor wurde den Lotus Sport Cars gehuldigt. Hauptsache schnell, Hauptsache Benzingeruch, Hauptsache Gleichgesinnte. Neben Touristen aus aller Welt, die sich meist gegenseitig ablichten, lockt dies auch immer wieder Engländer an, die selbst – wie mir zwei Bonneville-Rider erzählten – zum allerersten Mal im Ace vorbeischauen.

Die Preise sind Pub-typisch, das Essen ebenso – das Ambiente aber einzigartig, speziell wenn man sich für Motorräder und deren Geschichten interessiert. Da kann man am Weg in die Toilette oben im ersten Stock schon mal länger hängen bleiben, um die unzähligen Fotos vergangener Tage zu studieren – oder sich mit Souvenirs eindecken. Denn selbstredend gibt es auch einen kleinen Shop neben dem Tresen, in dem von Stickern, Aufnähern, Kaffeehäferl über T-Shirts bis hin zur originalen Rocker-Lederjacke alles käuflich zu erwerben ist, um zu bekunden, auch hier gewesen zu sein.

Fazit:

Im einzigen Lokal der Welt, das von sich behaupten kann, Namensgeber für eine ganze Fahrzeuggattung zu sein, wird es zwar nie mehr so wild hergehen, wie in den 1950er und 1960er Jahren, ein Besuch lohnt sich aber allemal, wenn man in London ist. Sei es, um mit Gleichgesinnten zu plaudern, einfach ein paar Pints zu trinken oder für einige Stunden tief in die Vergangenheit einzutauchen. Willkommen ist jeder, der Benzin im Blut hat, vom vollbepackten Reise-Enduristen bis zum Gebückten, Vierrädrige halten dort genauso regelmäßig ihre Treffen ab, wie auch Harley- und Rollerfahrer. Letztere längst ohne Angst, verhauen zu werden.

Es war schon spät als wir gingen, Weißlocke saß aber immer noch am Eingang, sein Kaffee- oder Tee?-Häferl neben dem Helm am Boden. Wo er wohl in den all den Jahren zwischen 1969 und 2001 gewesen ist? Auf der "Rennstrecke" kaum, allein zwischen dem Ace Corner die North Circular Road rauf bis zum Kreisverkehr bei der Shell-Tankstelle habe ich drei hinterhältige Speed-Cameras gezählt…

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