KTM 790 Adventure R bzw. Adventure • Modelljahr 2019

Alles richtig gemacht!

Kaum ein Motorrad im Reiseenduro-Segment wurde derart sehnsüchtig erwartet, wie die 790 Adventure von KTM. Spätestens nachdem die Orangen erstmals im Herbst 2016 auf der EICMA den Prototyp der 790 Duke präsentierten, war in der Szene klar, dass da auch etwas fürs Grobe nachkommen werde. Schließlich will das Know-How von 18 Dakar-Siegen in Serie auch an den Endverbraucher gebracht werden. Und noch nie hatte ein KTM-Modell derart viele „Blind-Bestellungen“ vorab wie die 790 Adventure R, ohne dass die Kunden auch nur einen Meter damit gefahren sind. Hat sich die „Risiko-Bereitschaft“ der Kurzentschlossenen gelohnt? Um dies herauszufinden, bin ich die beiden neuen Modelle dort gefahren, wo sich die Spreu vom Weizen trennt – in der Wüste Marokkos.


Auf den ersten Blick sticht einem der wuchtige, tief platzierte 20-Liter-Tank entgegen. Gewöhnungsbedürftig, aber nur für den Betrachter. Denn sobald du drauf sitzt, bist du sofort damit auf Du, wähnst dich fast auf der schlanken 690er, sorgt die schwerpunktgünstige Positionierung für eine römische eins im Handling-Zeugnis. Wozu auch dieser eben aus der Duke bekannte, stets satt am Gas hängende Parallel-Twin seinen Teil beiträgt. Wobei man hier nicht einfach einen Motor aus einem bestehenden Produkt entwendet und adaptiert, sondern das Triebwerk schon seinerzeit für die Verwendung in beiden Plattformen entwickelt hat. Mit 95 PS wurde er für die Adventure gegenüber der Duke in der Leistung um 10 Pferdestärken gekappt, dafür mit einer von unten heraus harmonischeren Drehmomentkurve bzw. einem leichten Mehr an Drehmoment (89 Newtonmeter) versehen. Das schiebt zwar oben hinaus nicht ganz so brachial an wie in der Duke, kommt aber der Laufruhe und Souveränität zu Gute, ohne dabei auch nur irgendwann brustschwach zu wirken. Durch seine schlanke Bauweise passt der Reihenzweizylinder perfekt in ein Adventure-Bike, dem als oberste Prämisse ins Lastenheft geschrieben war, Gewicht bzw. Sitzhöhe niedrig und den Fahrspaß hoch zu halten. Im Verein mit der endurotypischen 21/18-Zoll-Bereifung ergibt dies auf und abseits der Straße ein agiles Paket, das in der Reiseenduro-Mittelklasse seinesgleichen suchen kann. Was definitiv für beide Modelle gilt…

…worin unterscheidet sich aber nun die R von der Standard-Variante? Optisch sofort auf den ersten Blick erkennbar neben dem R-typischen orangen Rahmen durch den hohen Kotflügel vorne, das kleinere Windschild und die einteilige Sitzbank, im Inneren vor allem durch das beste und damit teuerste Fahrwerk, das KTM je einem Straßenmotorrad verpasst hat. Da bügeln vorne die 48-Millimeter starke XPLOR-Upside-Down-Gabel aus der EXC und hinten das dazugehörende PDS-Federbein alles weg, was sich selbst bei hohem Tempo an noch so groben Unebenheiten in den Weg stellen mag – eine derartige Performance habe ich definitiv noch bei keinem Serien-Fahrwerk einer Reiseenduro erlebt. Es an seine Grenzen zu bringen, wird „Normalsterblichen“ schwer gelingen, wenn man nicht Marc Coma, Sam Sunderland oder Chris Birch heißt. Mit diesen Jungs ging’s für uns in die Wüste, doch dazu später. Der Federweg der R beträgt vorne wie hinten 240mm, bei der normalen 790 Adventure sind es jeweils 200 – nur bei der R auch voll einstellbar. Trotz aller Bemühungen und berechtigtem Stolz der KTM-Ingenieure eine derart leistungsfähige und doch langstreckentaugliche Enduro so niedrig zu bauen, ergibt sich dadurch für die R, die auch mit einem Plus von drei Zentimeter an Bodenfreiheit aufwarten kann, eine immer noch stolze Sitzhöhe von 880 Millimeter, wodurch Leute unter 1,80 Meter Körpergröße schon eine gewisse Übung mitbringen sollten. Bei der Standard-790er sind es dagegen moderate 830-850 Millimeter, wobei sich diese mit anderen Sitzbänken sowohl nach unten (inklusive Fahrwerks-Kit sogar auf 800 mm) als auch nach oben (865) korrigieren lässt. Bei der R geht’s dagegen mit der Powerparts-Bank nur noch höher hinauf. 

Manch Motorradreisender mag womöglich die meist üblichen Sturzbügel vermissen, der Tank der 790 Adventure hat aber einen wirksamen Schutz aus Kunststoff, der selbst hunderte Meter im "Schleifgang" auf Asphalt überstehen soll. Im Powerparts-Zubehörregal findet man aber auch einen Carbon-Tankschutz, mit dem unsere R-Modelle in Marokko ausgestattet waren.

Elektronische Fahrhilfen ganz im Zeichen der Zeit bzw. des Marktes haben beide in Hülle und Fülle an Bord: Kurven-ABS, Traktionskontrolle, verschiedene Fahrmodi. Alles gut ablesbar am farbigen 5-Zoll-TFT-Display und KTM-typisch intuitiv einfach mit der linken Hand am Lenker zu bedienen. Beiden gemein sind sehr gut abgestimmte Street- und Offroad-Modi, wobei bei Letzterem wie üblich das ABS am Hinterrad deaktiviert ist. Serienmäßig in der R dabei: Ein Rally-Mode, vergleichbar mit dem Track-Mode der 790 Duke bzw. 1290 Super Duke R, bei dem Gasannahme und neunstufige Traktionskontrolle individuell einstellbar sind und mit dem das Potential dieses Motorrads erst so richtig auszuschöpfen ist. Sogar während der Fahrt ist die Schlupf-Regelung am Hinterrad jederzeit zu verändern, weshalb man nicht mehr stehenbleiben muss, wenn es etwa von der Botanik direkt auf die Straße geht. Das System merkt sich auch bei einem Neustart die zuletzt eingestellte Konfiguration. Mit einer Ausnahme: Wurde die Traktionskontrolle auf Null gestellt, ist sie nach Aktivieren der Zündung wieder aktiv, (EU)-Vurschrift is Vurschrift…

Wobei Stufe eins selbst in den Dünen funktionierte, lediglich wenn ich einmal das Hinterrad im tiefen Sand eingegraben hatte, war völliges Deaktivieren doch die bessere Wahl.

Mit dem angegebenen Verbrauch von deutlich unter 5 Liter sollen Reichweiten bis zu 450 Kilometer möglich sein, der Extrem-Reisende Joe Pichler, der mit der Adventure 790 R schon 19.000 Kilometer durch Afrika unterwegs gewesen ist, gibt 400 als realistischen Erfahrungswert an – ein sehr guter Wert für eine Reiseenduro. Reisefreundlich sind auch der Service-Intervall von 15.000 Kilometern, die 12-Volt-Steckdose im Cockpit oder die Möglichkeit zur Anbringung eines USB-Steckers unter der Sitzbank. Apropos: Um an den dort angebrachten Luftfilter zu gelangen, sind praxisgerecht lediglich zwei Schrauben zu lösen, ehe man ihn wie eine Kassette herauszieht. Werden speziell Offroader, die oft auf sandigen Pisten unterwegs sind, zu schätzen wissen. In der R ist übrigens ein Schaumfilter, die S muss in der Grundausstattung mit einem papierenen auskommen. LED-Lichter sind in beiden Modellen Standard, mit der My-Ride-App von KTM wird das Display zur Kommunikationszentrale für Anrufe, Musik oder auch Routenführung.

Nichts zu meckern gibt es über die von KTM selbst produzierten Bremsen – vorne sind zwei 320-Millimeter-, hinten eine 260-Millimeter-Scheibe verbaut – die das Motorrad auf der Straße richtig gut verzögern, ohne dabei zu bissig für die unbefestigten Wege abgestimmt zu sein. Aber das kennt man ja auch schon aus der 1090 Adventure R.

Doch genug geschrieben, losfahren! Am ersten Tag war die Standard-Adventure dran, neben richtig flotten Straßenpassagen nur leichtes Offroad angesagt. Mit meinen 1,75 Meter fühlte ich mich sowohl mit der niedrigen, als auch der höheren Sitzposition des Original-Sitzes pudelwohl, wobei bei letzterer der Kniewinkel noch einen Tick angenehmer war, mit beiden hatte ich sicheren Stand zum Boden. Der Windschutz mit dem hohen, aber leider nur mit Werkzeug verstellbaren Schild ist sehr gut, die eingangs erwähnte Tank-Konstruktion zusätzlicher Wetterschutz. Vor allem aber glänzt das Motorrad durch sein gutes Handling und lässt sich trotz der straßenorientierten Bereifung auch auf unbefestigten Wegen nicht aus der Ruhe bringen.  

Schade nur, dass der in der Duke serienmäßige, wunderbar arbeitende Quickshifter bei beiden Adventure-Modellen aufpreispflichtig ist. Offiziell, weil das Reiseenduro-Klientel diesem keinen so hohen Stellenwert beimisst – speziell Offroad erleichtert der Schaltassistent die Arbeit aber doch ungemein, weil man sich ohne Kuppeln viel mehr auf heikle Passagen konzentrieren kann. Vom Spaßgewinn auf kurvigen Passstraßen ganz zu schweigen. Gut, dass die Motorräder beim Test in Marokko alle damit ausgestattet waren.

Wer mich bzw. meine Testberichte kennt, der weiß, dass ich gern auch ein genaues (und kritisches) Auge auf die Serienbereifung werfe, auch wenn diese natürlich ab dem zweiten Reifensatz jederzeit selbst auf die persönlichen Bedürfnisse zu korrigieren ist. Und hätte ich den Avon TrailRider, auf dem die S ab Werk daher kommt, in Marokko erstmals gefahren, wäre das Zeugnis kein gutes. Da ich den Reifen jedoch schon ca. 8.000 Kilometer auf meiner Triumph Tiger 800 XC drauf hatte und seine Qualitäten vor allem nach einer Schottlandreise als guten Straßenenduroreifen mit Grip bis an die Rasten und ordentlicher Nässeperformance zu schätzen weiß, führe ich die gelegentlichen Rutscher auf die extrem glitschigen Asphaltverhältnisse am Wüstenrand zurück, vor denen uns die KTM-Leute extra vorher gewarnt hatten. Die R hat serienmäßig den Karoo 3 von Metzeler drauf, eine gute Wahl für all jene, die gute Offraod-Performance mit ordentlichen Leistungen auf der Straße kombinieren wollen, aber auch damit leben müssen, dass die Laufleistung überschaubar ist. Auf unseren Motorrädern in Marokko war jedoch der TKC 80 von Conti aufgezogen, da dessen Vorderreifen im Sand mehr Traktion hat (der hintere ist vom Karoo 3 genauso gut).

Stichwort Sand. Noch nie habe ich eine Mittelklasse-Reiseenduro – die ja immer noch kein Leichtgewicht ist – derart unbeschwert durch tiefen Sand pilotiert. Solange man die „Grundregeln“ in den Dünen beherzigt und am Gas bleibt, zieht die 790er beharrlich und unbeirrt ihre Spur durch die Wüste. Dazu kommt ein Fahrwerk, dem auch bei hohem Tempo tiefe Schlaglöcher nichts anhaben, das Fahrfehler ausbügelt und einem sehr viel Vertrauen ins Motorrad vermittelt. Ja, ich würde sogar soweit gehen zu sagen, dass die 790 Adventure einen besseren Offroad-Fahrer aus dir macht, so spielerisch und harmonisch ist das Handling. Zumindest so lange, bis man nach vorne schaut und die Herren Coma, Sunderland oder Birch bei der Arbeit sieht…

…da aber Aufgeben bzw. den Motorradschlüssel an den Nagel hängen keine Alternative ist, fährt man weiter, lotet seine Grenzen aus, die sich mit diesem Motorrad definitiv nach oben schieben werden. Und im Fall des Falles ist es auch wieder alleine aufzuheben – mit 189 Kilo trocken bzw. 209 Kilo mit sämtlichen Flüssigkeiten wiegt die 790er vollgetankt gerade einmal soviel wie die ebenfalls schon sehr offroadtaugliche 1090 R, dazu kommt dann noch das bessere Handling durch den tiefen Schwerpunkt.

+ Das Fahrwerk beider ist top, in der R setzt es aber ganz neue Maßstäbe für Reiseenduros

+ Das Handling ist nicht zuletzt durch den niedrigen Schwerpunkt außergewöhnlich, on- und offroad

+ Der Motor besticht durch eine unaufdringliche Souveränität

– Den tollen Quickshifter, in der Duke Serie, gibt es nur gegen Aufpreis

– Das Windschild kann lediglich mit Werkzeug verstellt werden

– Die Sitzhöhe der R ist – auch wenn durch deren beeindruckende Offroad-Tauglichkeit gut zu begründen – immer noch für viele herausfordernd hoch




Fazit:

Welche 790 Adventure ist nun für wen die richtige Wahl? Eine Frage, die sich so einfach nicht beantworten lässt, wenn der Preis (in Österreich 13.999 Euro für die Standardvariante bzw. 15.199 für das Topmodell) keine entscheidende Rolle spielt. Natürlich verfügt die R über ein Fahrwerk, nach dem du dir alle zehn Finger abschleckst, aber brauchst du es auch? Nüchtern betrachtet werden es zumindest 90 Prozent aller Käufer nie ausreizen, nur die wenigsten meterhohe Sprünge hinlegen oder mit 150 Sachen über Wellblechpisten brettern. Weniger, sprich „Normalo-Sprünge“ über Kuppen, den Hunderter im Schotter etc., kann S auch wirklich gut, dazu kommt in Serienabstimmung ein besseres Straßenhandling (das man natürlich beim Fahrwerk der R mit ein wenig Spielerei auch hinkriegen wird). Fahrer unter 1,80 Meter werden sich zumindest im Alltag auf der S wohler fühlen – die du dir übrigens auch, bis aufs Fahrwerk, zur „R“ umrüsten kannst: Mit dem hohem Kotflügel, kleinerem Windschild, einteiliger Sitzbank, gegebenenfalls Stollenreifen und vor allem dem in der R serienmäßigen Rally-Mode, den ich jedem Käufer der Standard-790er nur empfehlen kann, um das volle Potential dieser Reiseenduro auszuschöpfen. Umgekehrt, kann man sich natürlich auch die R mit der geteilten Sitzbank der normalen Adventure, derem höheren Windschild etc. noch bequemer machen.

Ich habe zwar aktuell keinen Bedarf an einem neuen Motorrad, sehe aber nichts am Markt, das meine Anforderungen (für den täglichen Weg zur Arbeit genauso bereit wie für die große Reise, für die Fahrt mit Sozia ebenso geeignet, wie allein über steile, grobe Schotterpfade) in der Praxis besser erfüllen könnte, als so eine persönlich modifizierte „SR“ …

…weil aber Motorradfahren zu einem großen Teil auch Emotion und weniger Vernunft ist, kann ich mir trotzdem nur schwer vorstellen, dass sich der Wolf dann wirklich eine S in die Garage stellt, wenn’s auch diese R gibt. Mit einem Fahrwerk, das man selbst an Tagen, an denen man nicht fährt, streicheln will. Und das mir dabei entschlossen ins Ohr flüstert: Ich kann, wenn ich will. Daher ist all den „Risiko-bereiten“ Frühkäufern da draußen nur zu gratulieren: Alles richtig gemacht!

© 03/2019