Ducati Multistrada 1200 Enduro • Modelljahr 2016

Wie schmutzig darf eine Ducati werden?

Zündschlüssel ins Schloss stecken und rumdrehen war gestern. Wer eine Ducati fährt, hat diesen neuerdings lediglich im Hosensack und drückt das Knöpferl am Lenker. Das Motorrad erkennt sowieso, ob die Fahrberechtigung dabei ist. Kennen wir schon aus der "normalen" Multistrada und der Automobilbranche, ist aber jedes Mal wieder ein Erlebnis. Wie es das überhaupt die ganze Woche gewesen ist, die ich zusammen mit der neuen Multistrada 1200 Enduro verbringen durfte. Dass die Multi ein sportliches Fun- und Reisebike für die Straße ist, ist kein Geheimnis, aber können die Italiener auch "Enduro", wie es da so selbstbewusst auf der wuchtigen Tankverkleidung prangt? Ist natürlich ein äußerst dehnbarer Begriff, aber "Reiseenduro" können sie, wovon ich mich ausgiebig überzeugte.

Schließlich war es mit den Änderungen zur bekannten Multi nicht einfach damit getan, der Neuen ein riesiges 30-Liter-Spritfass zu spendieren, die Änderungen sind durchaus weitreichender. Das beginnt äußerlich ebenso gut sichtbar mit größeren Reifendimensionen (vorne 19, hinten zwar wie gewohnt 17 Zoll, aber schmäler) auf Speichenfelgen, setzt sich über ein Mehr an Federwegen von jeweils 30 auf 200 mm vorne wie hinten fort, einer robusten Zweiarmschwinge, einem kürzer übersetzen ersten Gang, einer anderen Bremsanlage vorne sowie einer grundlegend veränderten Fahrwerksgeometrie, die sich aus Lenkkopfwinkel, Radstand und der stolzen Sitzhöhe von 870 mm ergibt. Insgesamt sind es laut Ducati über 200 neue Teile, die die Motorräder unterscheiden.

Das spürt auch, wer befestigte Wege verlässt und sich auf schottrigen Untergrund wagt. Das Motorrad schluckt einiges an Unebenheiten und lässt sich auch im Stehendfahren gut kontrollieren, wozu neben der gelungenen Ergonomie die guten Fußrasten (die Gummis sind mit einem Griff abnehmbar) ihren Teil beitragen. Auch die beherzte Fahrt über das Kopfsteinpflaster meines täglichen Arbeitsweges auf der Wiener Höhenstraße konnte dem voll elektronisch einstellbaren Fahrwerk von Sachs nur ein müdes Lächeln entlocken, schlechte Straßen können der Italienerin sowieso nichts anhaben. Ganz nach dem Vorbild der KTM 1290 Super Adventure, mit der sich die Ducati auch die wichtigsten Eckdaten teilt, sehen die Respekt einflößenden 160 Pferdestärken nur im Sport- bzw. im Touring-Modus (dort allerdings "Soft") zur Verfügung, der Enduro- oder Urban-(Stadt)-Modus begnügen sich mit vergleichsweise moderaten 100 PS.

Die umfangreichen Einstellungs-Möglichkeiten sind allesamt mit der linken Hand am Lenker zu erledigen und am übersichtlichen 5-Zoll-Farbdisplay abzulesen, auch zwischen den Fahrmodi kann im Fahren gewechselt werden, lediglich das Gas muss dafür einen kurzen Moment geschlossen sein. Die einzelnen Modi können punkto ABS, Motorcharakteristik, Traktions- und Wheely-Kontrolle individuell nach persönlichen Präferenzen angepasst werden, was unterm Strich unzählige Möglichkeiten offen lässt. So war mir im an sich favorisierten Touring-Modus in der Werkseinstellung die Gabel vorne einen Tick zu weich gedämpft, was sich problemlos korrigieren ließ – und im Enduro-Modus schaltete ich ABS und Traktionskontrolle sowieso komplett weg. 

Kurvenlicht und -ABS gehören bei der Ducati Multistrada 1200 Enduro ebenso zur Serien-Ausstattung wie ein Tempomat oder die schon von der Konkurrentin aus Mattighofen bekannte Berg-Anfahrhilfe, warum bei dieser Fülle an Informationen, die das Dashboard liefert, aber auf eine in dieser Klasse eigentlich schon längst zum Standard zählende Reifendruckanzeige verzichtet wird, erschließt sich mir nicht ganz. Womöglich, weil man das Thema Enduro derart konsequent durchzieht, und das System bei einem für Offroad-Fahrten reduzierten Luftdruck sonst aufschreien würde? Ein Hit ist auch das Ducati-Multimedia-System, mit dem man sich auf dem TFT-Display eingehende SMS anzeigen oder Musiktitel vom mit Bluetooth verbundenen Smartphone auf die Kopfhörer im Helm übertragen lassen kann (so man so etwas hat) – und wer sich die Ducati-App runterlädt, sammelt sämtliche Infos am Handy, die die Sensoren des Motorrades aufzeichnen: Größte Schräglage, Route und Distanz deiner letzten Tour, höchster und niedrigster angefahrener Punkt, gewählte Fahrmodi und vieles mehr. Eine nette Spielerei…

…das Um und Auf der Multistrada ist aber auch in diesem Modell der Motor, von den Italienern liebevoll "Testastretta" getauft. Wenn der anreißt, bleibt kein Auge trocken – ganz egal, ob man den Dampf von 160 PS nun in einer Reiseenduro wirklich braucht oder nicht. Die Konkurrenz bietet es ja schließlich auch.  Dass Ducati beim Antrieb auf die wartungsintensivere Kette und nicht auf einen Kardan setzt, ist eine weitere Gemeinsamkeit mit der 1290 SA, mit der sich die Ausstattungsliste in vielen Dingen ähnelt. Keinesfalls aber am schlanken Auspuff, an dem sich punkto Optik viele Konkurrenten ein Scheibchen abschneiden können – seine niedrige Position ist freilich nicht unbedingt Adventure-like bzw. verrät, dass Flussdurchfahrten in der Streckenplanung von Multistrada-Fahrern auch künftig keinen allzugroßen Stellenwert bekommen sollten.

Und auch wenn Schönheit sowieso immer im Auge des Betrachters liegt, so wird der Optik bzw. dem Design bei Ducati schon von jeher ein ganz besonderer Stellenwert beigemessen. Fesch, diese in die Handprotektoren integrierten Blinker. Und erst dieser aggressive Blick aus den LED-Leuchten oberhalb des kurzen "Schnabels", ganz im Stile eines Raubvogels, der dem Fahrer vor dir beim Blick in den Rückspiegel suggeriert, besser gleich Platz zu machen, weil er sowieso keine Chance hat! Auf der Straße.

Denn die Frage, wie schmutzig eine Ducati abseits davon wirklich werden darf, muss zwar jeder für sich selbst beantworten, wird aber aufgrund des Arbeitsgewichtes von vollgetankt rund 255 Kilo in der Regel doch eher defensiv angegangen werden. Wozu auch der beim Testmotorrad serienmäßig aufgezogene Scorpion Trail II von Pirelli passt: Am Asphalt bietet er Grip ohne Ende, am Schotter bzw. auf der Wiese stößt er rasch an seine Grenzen. Wer wirklich mehr will, sollte zu Grobstolligerem greifen, was dann bei diesen ans Hinterrad wirkenden Kräften auf der Straße aber wohl einem Radiergummi gleichkommen wird.

Ach ja: Den Schlüssel braucht man doch, wenn auch nur selten. An der Tankstelle, um das 30-Liter-Fass zu öffnen. Bei einem Testverbrauch von durchschnittlich 6,5 Litern auf 100 Kilometer (bei sportlicher Fahrweise waren's schon mal mehr, moderat aber auch weniger) kommt man mit einer Füllung rund 450 Kilometer weit – wer's braucht und will. 

"Die Ducati Multistrada Enduro ist schon eine stattliche Erscheinung. Und fesch! Das Mitfahren hat Spaß gemacht, der Sitz ist bequem, der Kniewinkel ebenfalls – auch lange Etappen waren kein Problem. Könnte mir sehr gut vorstellen, damit auf Reisen zu gehen und habe auch lange überlegt, fünf Wölfe zu vergeben. Aber vier sind bei mir auch schon sehr gut und ganz kam sie nach meinen subjektiven Eindrücken vom Wohlbefinden hinten drauf doch nicht an die Triumph Explorer oder KTM 1290 Super Adventure heran."


Fazit:

Wenn KTM, BMW oder Triumph ihre großen Adventure-Modelle "Enduro" nennen dürfen, dann darf das auch Ducati tun. Die Multistrada 1200 Enduro ist definitiv eine ernsthafte Alternative im offenbar stetig wachsenden Markt der großen Reiseenduros mit Kraft im Überfluss und Reichweiten jenseits des durchschnittlichen Sitzvermögens. Auch wenn ihre natürliche "Heimat" zweifellos die Straße ist, lassen sich mit ihr genauso wie mit der Konkurrenz auch Abwege ohne großem Bauchweh meistern. Man darf gespannt sein, ob es Ducati bei diesem einmaligen Ausflug weg vom reinen Asphaltmoped belässt, um sich eben auch von der ganz obersten Schicht des Käuferkuchens ein Stück abzuschneiden (in Österreich sind dafür immerhin stolze € 23.695,-- zu berappen), oder die eingeschlagene Richtung konsequent weiter verfolgt. Ich würde jedenfalls gerne eine Multistrada Enduro mit all ihren gelungenen Features wie der Doppelarmschwinge, größeren Federwegen etc. aber eben dem "kleinen" Tank der normalen Multistrada fahren, der mit 20 Litern immer noch groß genug ist, das Motorrad jedoch gleich um einiges handlicher bzw. weniger voluminös machen würde. Und wenn ich schon am Sinnieren bin: Mit der Hyperstrada bzw. -motard hätten die Italiener doch eine wunderbare Basis für weitere aufregende Modelle im Talon, die schmutzig gemacht eine saubere Figur abgeben könnten…

© 09/2016