Aprilia Tuareg 660 • Modelljahr 2022

Keine halben Sachen

204 Kilo vollgetankt, ordentliche Federwege, be reit für die Reise, wo auch immer diese hingehen mag – exakt mit diesen Attributen landete Yamaha 2019 mit der Tenere 700 eine Punktlandung. So war es wenig verwunderlich, dass (nicht nur) mich die neue Aprilia Tuareg 660 von der ersten Bekanntgabe der technischen Eckdaten stark an an die T7 und deren Erfolgsgeschichte erinnerte. Mit dem kleinen, aber bestimmt für viele feinen Unterschied, dass die Italiener ihr Motorrad mit jeder Menge Elektronik ausstatteten, während Yamaha ja gerade mit dem "puristischen" Weglassen derselben bei den Fans punktete. Ich hatte die Tuareg 660 im Frühjahr 2022 zwei Wochen lang bei mir daheim in der Garage, um ausgiebig zu überprüfen, ob sie tatsächlich das Zeug dazu hat, eine Art "High-Tech-Tenere" zu sein bzw. ob das eine ernsthafte Reiseenduro ist.

Beginnen wir beim Motor, bei dem sich Aprilia der hausinternen Plattform mit dem bereits aus der RS660 bzw. Tuono 660 bekannten Reihen-Zweizylinder mit 659 Kubik bedient. Doch anders als bei den beiden "Schwestermodellen", wo dieser 100 PS leistet, kommt er in der Tuareg mit "nur" 80 bzw. einem maximalen Drehmoment von 70 Nm aus. Ausreichend für den Einsatz-Zweck bzw. eine Reiseenduro, mit der man gerne und regelmäßig die befestigten Wege verlässt. Denn der Motor entpuppte sich als durchzugsstark, hängt satt am Gas und ist da, wenn man ihn braucht. Natürlich wird er jene, die da auf einem Reisemotorrad jederzeit Kraft satt zwischen den Beinen spüren wollen, nicht vom Sattel reißen, aber ich finde ihn sehr gut gewählt bzw. abgestimmt und auch stark genug für die engagierte Pässejagd auf asphaltierten Straßen. Auch das Getriebe ist gut abgestimmt und lässt die Gänge harmonisch einrasten, speziell in Verbindung mit dem aufpreispflichtigen Quickshifter, mit dem das Testmotorrad ausgestattet gewesen ist und den ich als Extra durchaus empfehlen kann.

Punkto Elektronik ist so ziemlich alles drin, was man in einer Mittelklasse-Reiseenduro erwarten darf. Der Fahrer kann aus vier Fahrmodi wählen, zwischen denen es sich unterwegs einfach per Knopfdruck am rechten Lenker hin- und herswitchen lässt: Explore steht für die sportliche Straßenfahrt und ist in etwa das, was üblicherweise als Street- oder vielleicht auch Sport-Modus bezeichnet wird, Urban für den Stadtverkehr (bzw. auch eine gute Wahl bei Regen), Offroad für unbefestigte Wege, ein frei konfigurierbaren Rider-Mode für die persönlichen Präferenzen. Die einzelnen Modi unterscheiden sich in den voreingestellten Parametern fürs Ansprechverhalten bzw. Gasannahme, Motorbremse, Traktionskontrolle und ABS, wobei die Traktionskontrolle mit der eigentlich zum ebenfalls serienmäßigen Tempomat gehörenden Wippe auch während der Fahrt in jedem Modus vierstufig verstellt werden kann. Der Unterschied ist gut spürbar: In Stufe eins reguliert sie äußerst dezent, womit auch Drifts im Schotter gut möglich sind, in Stufe vier greift sie schon sehr früh ein. Selbstverständlich kann man die Traktionskontrolle aber auch vollständig deaktivierten. Aufs ABS kann nur im Offroad- bzw. Individual-Modus eingegriffen werden, zur Wahl steht normales ABS, ein am Hinterrad deaktiviertes bzw. vorne dezenter eingreifendes Offroad-ABS oder auch vollständig deaktiviertes ABS. Einzustellen bzw. gut abzulesen ist das alles am 5-Zoll-TFT-Farbdisplay, die Menüführung am linken Lenker so logisch, dass man rasch damit vertraut sein wird. Erwähnenswert ist auch die Möglichkeit, sich die Elektronik zu kalibrieren, falls man etwa das Ritzel ändert oder auch nur von einem Straßen-Reifen zu einem Grobstoller wechselt, wodurch sich in der Praxis ja auch meist der Radumfang ein wenig ändert. Hierzu fährt man eine Kalibrierungsfahrt bei 40 km/h im zweiten Gang (das System weist einen darauf hin, ob man schneller oder langsamer werden muss) und die Elektronik passt selbständig wieder alle Feinheiten an die neuen Gegebenheiten an…

Doch die umfangreiche Elektronik ist längst nicht alles, was die Tuareg zu bieten hat, auch bei den Federelementen machte man bei Aprilia keine halben Sachen. Mit 240 Millimeter Federweg vorne wie hinten bügeln die von Kayaba kommenden, voll einstellbaren Komponenten (vorne eine 43-Millimeter Upside-Down-Gabel, hinten ein Mono-Federbein) so ziemlich alles weg, was sich einem auch auf den entlegendsten Pfaden entgegenstellen mag, auch die ordentliche Bodenfreiheit von ebenfalls 240 Millimeter sollten fast überall im Gelände ausreichen. Vom Grund-Setting ist das Fahrwerk eher auf der Komfort-Seite, durch die Einstellbarkeit lässt es sich aber auch auf sportlich-stramm trimmen und so nur wenig Wünsche für Serien-Komponenten offen. Ein solider Motor- bzw. Ölwannenschutz aus Aluminium runden den ordentlichen Offroad-Auftritt ab.

Ebenso die Ergonomie: Die Position beim Stehendfahren ist angenehm, die Rasten, bei denen sich die Gummis entfernen lassen, bieten genug Aufstandsfläche und guten Halt. Die Sitzhöhe beträgt 860 Millimeter, durch die geringe Schrittbogenlänge der schlanken, einteiligen Bank, kommen aber auch mittelgroße Fahrer easy mit beiden Füßen zum Boden, wie ich mit meinem 1,75 Meter. Der Sitzkomfort ist in Ordnung, erst nach längeren Etappen meldet sich der Hintern ein wenig, Sitzposition und Kniewinkel sind Reiseenduro-typisch entspannt. Der Windschutz ist zwar nicht der Klassenbeste, für mich aber auf alle Fälle ausreichend. Beim Fahren zu zweit spürt man den Co-Piloten kaum, wie sich die beste Sozia wo gibt im Sattel der Tuareg fühlte, verrät euch Mel in ihrem Sozia-Check. Ihr wisst: Den gibt's nur auf Bike on Tour:

"Dass das Fahren zu zweit nicht oberste Prioriät hat, zeigt schon die Tatsache, dass es keine Haltegriffe für den Sozius gibt – für mich kein Problem, da ich mich sowieso beim Wolf anhalte, aber doch vielen wichtig. Die schmale Sitzbank ist nicht die komfortabelste, aber durch die gute Federung bekommt man von den Unebenheiten wenig ab und auch nach längerer Fahrt tat der Hintern nicht weh. Der Kniewinkel ist angenehm, der Platz überschaubar, insgesamt bekommt die Aprilia von mir gerade noch drei Wölfe"


Relativ stark geschwankt hat der Verbrauch der Tuareg 660 im Test, bei einer Tankfüllung lag dieser im Schnitt bei 4,6 Liter auf 1000 Kilometer, bei einer anderen dann auf 5,5 – was im Zusammenspiel mit dem 18-Liter-Tank Reichweiten von 320 bis 400 Kilometer errechnen lässt, auf jeden Fall ordentlich für eine Reiseenduro. Im Schnitt genehmigte sich die Aprilia im Test  5,2 Liter, was ebenfalls akzeptabel ist, wenn auch in Anbetracht der Leistung heutzutage doch schon ein recht hoher Wert. Im Reisetempo bzw. beim entspannten Cruisen ist aber sicher auch ein Durchschnittsverbrauch von unter 4,5 Liter möglich.

Nichts zu meckern gibt es über die Bremsen (vorne verrichten zwei 300-Millimeter-Scheiben mit Vierkolben-Zange, hinten eine 260er-Scheibe mit Einkolben ihren Dienst), die das Motorrad ordentlich verzögern, ohne Offroad zu bissig zu sein. Bei sportlicher Fahrweise muss man schon etwas kräftiger zupacken, hat dann aber die Aprilia gut im Griff. Der Bremshebel ist individuell auf die Handgröße einstellbar, der Kupplungshebel nicht. Die maximal erlaubte Zuladung von 210 Kilo ist genauso eines Reisemotorrads würdig wie der Service-Intervall von 10.000 km (oder einmal jährlich), auch die gewählte Serienbereifung mit dem Pirelli Scorpion Rally STR auf den Enduro-typische Raddimensionen von 21 Zoll vorne (90/90-21) und 18 Zoll hinten (150/70-18) passt vortrefflich. Verbindet er doch hervorragende Straßen-Eigenschaften – auch bei Nässe – mit ordentlicher Performance auf trockenem Schotter und verleiht dem Motorrad mit seiner Stollen-Optik obendrein ein "kerniges" Aussehen. Nicht umsonst wird der Scorpion Rally STR aktuell mit einigen Reiseenduros, von der Yamaha Tenere 700 über Husqvarnas Norden 901 bis hin zur Ducati Desert X in der Erst-Ausstattung ausgeliefert.

Preislich liegt die Tuareg 660 mit 13.490,- Euro in Österreich (in Deutschland sind es 11.990,-) für die Farb-Varianten "Rot Martian" bzw. "Gold Acid" ca. zwei Tausender über einer Yamaha Tenere, dafür hat man dann eben auch eine umfangreiche Ausstattung an elektronischen Fahrhilfen oder das TFT-Farbdisplay an Bord. Für die fesche Farbvariante "Indigo Tagelmust" in Blau-Weiß-Rot, die ich beim Test des Metzeler Karoo 4 in Italien einen Tag lang gefahren bin, wird leider ein doch ordentlicher Aufpreis fällig (13.990,- in Ö bzw. 12.690,- in D).

+ Handlichkeit & Ergonomie lassen einen rasch mit dem Motorrad vertraut werden

+ Die Federwege sind richtig richtig ordentlich für eine Reiseenduro

+ Die Traktionskrontrolle lässt sich während der Fahrt einfach verstellen

– Der gute Quickshifter ist ein leider ein aufpreispflichtiges Extra

– Der Verbrauch von 5,2 Liter/100 km im Test ist in Anbetracht der Leistung schon eher hoch angesiedelt

– Die lässige Farbvariante "Indigo Tagelmust" lässt man sich bezahlen


Fazit:

Unterm Strich finde ich es super, dass es jetzt auch ein Motorrad mit ähnlichen Fahrleistungen bzw. Eckdaten wie jene der Yamaha Tenere 700 samt elektronischer Fahrhilfen gibt, also auch für jene, die auf Traktionskontrolle oder Fahrmodi nicht verzichten wollen. Das Motorrad ist sehr zugänglich bzw. handlich und so auch eine gute Wahl für Einsteiger im Offroad-Bereich, ohne deshalb erfahrene Piloten zu langweilen – ganz im Gegenteil. Aber auch auf der Straße lässt sich die Tuareg 660 flott und sportlich bewegen, kommt durch und durch als "echte" Reiseenduro daher, die Fernweh aufkommen lässt. Am liebsten in entlegene Gebiete. Auch wenn sie hierfür natürlich erst die Unverwüstlichkeit einer Tenere beweisen wird müssen – vom Fahren auf und abseits des Asphalts braucht sie sich keinesfalls zu verstecken.


Technische Daten Aprilia Tuareg 660 2022:

  • Motor: Reihen-Zweizylinder
  • Getriebe: 6-Gang
  • Antrieb: Kette
  • Hubraum: 659 ccm
  • Leistung: 80 PS bei 9250 U/min
  • Drehmoment: 70 Nm bei 6250 U/min
  • Vorderreifen: 90/90-21
  • Hinterreifen: 150/70-18
  • Federweg vorne: 240 Millimeter
  • Federweg hinten: 240 Millimeter
  • Sitzhöhe: 860 Millimeter
  • Bodenfreiheit: 240 Millimeter
  • Radstand: 1.525 Millmeter
  • Gewicht trocken: 187 kg
  • Gewicht vollgetankt: 204 kg
  • Tankinhalt: 18 Liter
  • Testverbrauch: 5,2 Liter / 100 km
  • Service-Intervall: 10.000 km
  • Assistenzsysteme: ABS, Traktionskontrolle, 4 Fahrmodi, Tempomat, das Testfahrzeug hatte den (aufpreispflichtigen) Quickshifter


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