Triumph Tiger 1200 XCA • Modelljahr 2018

Muskelprotz mit feinen Manieren

"Wie fährt sich die neue Explorer", fragte mich ein alter Triumph-Experte, als ich das blitzsaubere, neue Motorrad gleich am ersten Tag meines Tests in der Kalten Kuchl, einem beliebten Biker-Treffpunkt in Ostösterreich, abstellte. "Wovon sprichst du?", entlarvte ich den netten Steirer, der mich trotzdem auf einen Kaffee einlud (Danke noch einmal dafür!) dann doch als nicht ganz so auf dem allerletzten Stand…

Die Bezeichnung "Explorer" gibt es nicht mehr, das Oberhaupt der Reiseenduro-Familie von Triumph heißt nun schlicht und einfach Tiger 1200. Wobei die Briten keinesfalls nur ein Namensschild abgeschraubt haben – die Frischzellenkur schlug sich gegenüber den Vorjahresmodellen auch in einem respektablen Gewichtsverlust auf der Waage nieder, im Fall der von mir zweieinhalb Wochen lang gefahrenen, rundum ausgestatteten XCA sind das stolze 11 Kilo! Mit 248 kg trocken sprechen wir zwar nach wie vor von einer ausgewachsenen Raubkatze, die inklusive vier Liter Öl und 20 Liter Sprit vollgetankt dann doch wieder locker die 270-Kilo-Marke überspringt, aber immerhin. Und um auf meine Antwort auf die eingangs gestellte Frage zurückzukommen: "Sie fährt sich verdammt gut…"

Insgesamt spricht Triumph von über 100 Neuerungen gegenüber der Explorer von 2017, auf den ersten Blick fällt einem gleich das in seiner Neigung verstellbare Fünf-Zoll-Farbdisplay auf, das wir schon aus dem Vorjahr von der Street Triple kennen. Der Fahrer kann nicht nur zwischen jeder Menge verschiedener Display-Stile wählen, sondern auch, ob sich der Kontrast automatisch ändern, also die Oberfläche sich bei wechselnden Lichtverhältnissen hell bzw. dunkel anpassen soll oder nicht. Als "Kommandozentrale" dient ein kleiner Fünf-Wege-Joystick am linken Lenker, mit dem bequem während der Fahrt sämtliche Programme angesteuert werden können. Klingt komplizierter als es ist, die logisch aufgebauten Menüfolgen gehen einem bald rasch und intuitiv von der Hand oder eben vom Daumen.

Einzustellen gibt es schließlich einiges an der vollausgestatteten Tiger 1200 XCA, deren umfangreiche Serien-Ausstattung keine Wünsche offen lässt: Neben dem erwähnten TFT-Farbdisplay wären das (im Schnelldurchlauf) noch beleuchtete Bedienelemente an den Lenkern, LED-Scheinwerfer und LED-Tagfahrleuchten, LED-Kurvenlicht, LED-Nebelscheinwerfer, "Keyless Go" (schlüssellose Zündung), Wegfahrsperre, Triumph Semi Active Suspension (TSAS) System von WP, kurvenoptimiertes ABS und Traktionskontrolle, 6 Fahrmodi, Tempomat, drei Bordsteckdosen (2 x 12 V, 1 x USB), Hauptständer, selbstrückstellende LED-Blinker, Ölwannenschutz, Elektrisch einstellbare Touring-Windschutzscheibe, Arrow-Schalldämpfer aus Titan und Carbon, Handprotektoren, Heizgriffe, Berganfahrhilfe, beheizter Fahrer- und Soziussitz…

Doch genug der Theorie, wie fährt sich das Teil nun wirklich? Schon der Vorgänger fühlte sich auf der Straße um einiges handlicher an als er sich am Parkplatz rangieren ließ, und diese Agilität hat sich die Tiger 1200 nicht nur bewahrt, sondern weiter verbessert.

Spielerisch lässt sich die große Raubkatze um Kurven jeglicher Radien zirkeln, Lastwechsel-Reaktionen durch den angenehm unauffällig funktionierenden Kardan sind ihr fremd, die Ergometrie ist sowohl im Sitzen als auch im Stehen gelungen. Erst das regelmäßige Kratzen der Stiefel bzw. Rasten am Asphalt zeigt bei der engagierten Kurvenhatz die Grenzen auf.

Das Prunkstück des Motorrads ist aber weiter der Motor, der stets souverän am Gas hängt, in der neuesten Version satte 141 PS leistet, das maximale Drehmoment von 122 Nm liegt bei 6.200 U/min an. 

Wobei es dem Triple so ziemlich egal ist, ob man ihn schaltarm und niedertourig fährt, oder hochdreht, dass die Musik spielt. Kraft ist in jeder Lebenslage genug vorhanden und trotzdem ist das Triebwerk kein rüder Geselle – vielmehr ein Muskelprotz mit feinen Manieren. Da passt dieser wunderbare Quickshifter, den die Top-Modelle XCA (und die vergleichbare Straßen-Version XRT) serienmäßig an Bord haben, wie die berühmte Faust aufs Auge: Süchtig machend flutschen die Gänge sowohl beim Rauf- als auch beim Runterschalten seidenweich rein –wird mit Kupplung geschaltet, wird der Vorgang jedoch oft von einem Klacken begleitet.

Sechs Fahrmodi unterstützen den Fahrer bzw. bringen das Zusammenspiel von Power, ABS, Traktionskontrolle und Dämpfung für den jeweiligen Einsatzbereich in Einklang: Neben "Road", "Rain", "Sport" und "Offroad" noch ein aus den vier Voreinstellungen frei konfigurierbarer "Rider"-Modus sowie exklusiv für die XCA ein "Offroad-Pro"-Modus. Bis auf die beiden Offroad-Modi, die das ABS stark reduzieren bzw. am Hinterrad deaktivieren, sind alle während der Fahrt zu verstellen. So wie auch das semiaktive Fahrwerk von WP, das in jedem Modus noch in sieben Stufen von "Komfort" bis "Sport" feinjustiert werden kann. Und man spürt den Unterschied. Ich bin meist im Fahrmodus "Sport" mit relativ komfortabler Federung unterwegs gewesen, fürs Andrücken lässt sich das Fahrwerk aber auch so richtig hart trimmen. Da passt dann auch die giftige Brembo-Bremsanlage dazu, eine der besten, die ich bislang auf Reiseenduros kennenlernen durfte.

Keine Frage: Am wohlsten fühlt sich die Tiger 1200 auf der Straße, trotzdem hat sie auch für die Fahrt auf unbefestigten Wegen zugelegt. Wobei hier anders als bei der kleinen Schwester Tiger 800 – wo sich die offroad-affinen XC-Modelle auch punkto Federweg, Bodenfreiheit und Rad-Dimensionen von den XR-Modellen für die Straße unterscheiden –  der Unterschied zur XR hauptsächlich auf die Speichenfelgen (für Schlauchlosreifen) sowie Motor- und  Ölwannenschutz beschränkt ist. Wunderdinge darf man sich daher natürlich keine erwarten, zumindest aber muss der Fahrer einer großen britischen Raubkatze keinesfalls mehr Bauchweh haben, wenn mal der Asphalt unter den Reifen ausgeht. Im Gegenteil: Man kann das Motorrad durchaus beherzt über Schotterpisten treiben, wozu auch der gute Stand auf vorbildlich breiten Offroad-Fußrasten und das ausgewogene Fahrwerk beitragen. Das bügelt einiges weg, schlechte Straßen sind kein Problem – erst wenn es offroad richtig ruppig wird und härter zur Sache geht, stoßen die 190 (vorne) bzw. 193 (hinten) Millimeter Federweg dann doch an ihre Grenzen.

Dennoch haben die Ausflüge abseits der befestigten Wege Spaß gemacht, solange man dabei nicht im Hinterkopf hat, dass das Ding im Fall des Falles wieder aufgehoben werden will. Wobei ich denke, dass den meisten 1200-XCA-Fahrern der normale "Offroad"-Modus am Feldweg eher liegen wird, als der "Offroad Pro", bei dem sich die elektronischen Helfer sehr dezent zurück halten und es sich auch schon mal um die Kurve driften lässt.

Die Serienbereifung ist mit dem Tourance Next von Metzeler in meinen Augen gut gewählt – ein immer noch ausgewogener Gummi, dessen Stärken so wie die des Motorrads vor allem auf der Straße liegen. Diejenigen, die ihre Tiger 1200 regelmäßig abseits davon bewegen wollen, sollten dann doch etwas gröberes aufziehen, ich könnte mir den neuen Scorpion Rally STR oder auch den vergleichbaren Karoo Street von Metzeler für die XCA gut vorstellen, auch Contis TKC 70 würde Offroad etwas mehr Leistung bieten, ohne die Möglichkeiten des Bikes auf der Straße groß zu beschneiden. Grobstoller vom Schlage eines TKC 80 oder Michelins Anakee Wild würde ich persönlich diesem Motorrad nicht verpassen, auch wenns natürlich gut ausschaut…

 

"Manchmal liegt der Hund im Detail – und ich gebe zu, dass ich bei der Tiger 1200 die Möglichkeit vermisste, viereinhalb Wölfe zu vergeben. Der Kniewinkel ist perfekt, der Sitz bequem, auch lange Etappen waren ein Vergnügen. Einzig, dass ich ein wenig am Sattel hin- und hergerutscht bin, wenn der Wolf mal wieder zu forsch am Gashahn drehte oder in die Eisen griff, empfand ich ein wenig störend. Alles in allem aber doch eines der besten Motorräder zum hinten drauf sitzen. Da kann die Reise gar nicht weit genug weg gehen."

Legende


Der Schlüssel bleibt dank Keyless Go übrigens in der Hosentasche, wird lediglich für die im Zubehör erhältlichen Koffer benötigt – gestartet wird einfach per Knopfdruck. Wobei diese Möglichkeit am Schlüssel auch deaktiviert werden kann, um modernen Langfingern die Arbeit zu erschweren.

Durchaus bequem ist die Sitzbank geraten, mit der lange Etappen kein Problem sind, zur Reisetauglichkeit trägt auch der gute Windschutz der während der Fahrt jederzeit elektrisch verstellbaren Scheibe bei – eine nette Spielerei, die man auch nützt, wenn man's hat. Stichwort Reisetauglichkeit: Genehmigt hat sich die Raubkatze im Test 6,1 Liter auf 100 Kilometer, was in Verbindung mit dem 20-Liter-Tank Reichweiten von gut 300 Kilometern errechnen lässt. Ausreichend für so ziemlich alle Gegenden der zivilisierten Welt. Und eine Wüsten-Durchquerung wird man mit der Triumph Tiger 1200 ohnehin eher weniger planen.


+ Der souveräne Motor ist eine Wucht, kraftvoll und doch gutmütig 

+ Die Bremsen verzögern das Motorrad auch bei sportlichster Fahrweise vorbildlich

+ Die Serienausstattung lässt

keinerlei Wünsche offen

– Das Gewicht von 248 kg trocken oder 270+ vollgetankt ist im Fall des Falles dann doch recht viel zu stemmen

– Die Bremsen sind Offroad für meinen Geschmack etwas zu giftig

– Die Federwege bei den XC-Modellen  sind dieselben wie bei der "Onroad"



Fazit:

Vollgestopft mit modernster Elektronik und allen nur denkbaren Komfort-Gimmicks ist das XCA-Topmodell der Tiger 1200 die wohl beste Reiseenduro, die Triumph je gebaut hat. Mit einem souveränen Motor, tollen Bremsen und ebensolchem Fahrwerk. Wie gemacht auch für die Reise zu zweit, wie meine bzw. die beste Sozia wo gibt, bestätigte. Ob sie auch die richtige für einen ist, muss jeder für sich selbst entscheiden. Ich könnte mir jedenfalls sehr gut vorstellen, damit eine Tour ans Nordkap zu fahren, geht die Reise aber nach Rumänien oder Albanien bzw. steht mehr Schotter am Plan, dann würde ich doch zur handlicheren 800er greifen. Auf jeden Fall haben die Briten gegenüber der Konkurrenz im Bereich der Big-Enduros kräftig aufgeholt und eine ernsthafte Alternative zu GS 1200, 1290 Super Adventure,  Multistrada & Co. auf die Räder gestellt. Mit in Österreich € 22.950,-- spielt sie auch preislich in der Oberklasse-Liga mit, in Anbetracht der langen Liste an serienmäßigen Extras kann man sie dennoch fast als günstig durchgehen lassen.

© 05/2018