Der Mythos ist gnadenlos

Der Taxifahrer, der mich vom kleinen Flughafen Ronaldsway zum Start- und Zielgelände in Douglas fuhr, war ein gesprächiger Geselle. Nein, er stamme nicht von hier sondern aus Leeds. Vor 20 Jahren war er gekommen, um sich beim Qualifying zur Isle of Man TT zu versuchen und dann gleich dort geblieben. Ein recht langes Qualifying also, gemessen daran, dass er dann nie bei der Tourist Trophy gestartet ist. Aber wer weiß, wofür's gut war: Seit 1907 das berüchtigste Straßenrennen der Welt gefahren wird, zählte man 243 Todesopfer, nur einen Tag vor meiner Ankunft erwischte es den Franzosen Franck Petricola im Training. "Unser tiefes Mitgefühl ist bei ihm und seiner Familie", war auf einer offiziellen Aussendung des Veranstalters zu lesen. Reden wollten die Fahrer aber nicht darüber, auch wenn sie sonst eigentlich recht gesprächige Gesellen sind.

Jedenfalls berichtete ich noch selten von einer internationalen Sportveranstaltung, wo die Protagonisten einen derart lockeren Umgang zu Medien und Fans pflegen. In der Moto GP oder gar Formel 1 wäre es jedenfalls undenkbar, dass einer der Stars noch bis zwei Stunden vor dem Start Autogramme schreibt oder sich locker mit Journalisten unterhält. Von John McGuinness etwa – einem dieser Stars der Szene – gibt's, ähnlich wie von einem Valentino Rossi, praktisch an jeder Ecke alles an Fan-Artikel zu kaufen, was die Kasse klingeln lässt: Poster, T-Shirts, Kappen, Kaffeetassen, Jacken, vor den Fanshops stehen die Leute Schlange, zumindest bei der TT ist der Brite lebende Legende. Aber trotz des Hype um seine Person ohne jegliche Allüren. Ob wir irgendwann nach dem Rennen kurz reden könnten? "Warum nicht gleich", war seine Antwort – keiner ist berufener als er, über den Mythos dieses 60,725 Kilometer langen "Mountain Course" mit Start und Ziel in Douglas, der bei den verschiedensten Rennen unterschiedlich oft umrundet wird, Auskunft zu geben. Zumindest keiner unter den Lebenden: McGuinness ist mit bis zum Vorjahr 21 Siegen hinter dem 2000 verunglückten Joey Dunlop (26 Siege) der zweiterfolgreichste Fahrer aller Zeiten auf der Isle of Man.


"Die TT ist eine der gruseligsten, aber auch aufregendsten Strecken, auf der man Motorsport betreiben kann, sie hat Tradition, ist ganz einfach einzigartig", versucht der 43-Jährige zu umschreiben, was ihn seit jeher gefesselt hat. Ans Aufhören denke er ebensowenig wie daran, vor den am Denkmal kratzenden jungen Wilden klein beizugeben: "43 ist nur eine Zahl. Es können viele schnell fahren, aber nur wenige kontinuierlich über sechs Runden. Ich glaube, dass gerade bei einem Rennen wie hier vor allem Erfahrung zählt." Sprach's und wurde schon zwei Stunden später beim ersten Superbike-Lauf der Tourist Trophy 2015 in seinen Worten bestätigt. Allerdings zum eigenen Leidwesen nicht durch seinen 22. Sieg, sondern den Triumph des noch um zwei Jahre älteren Neuseeländers Bruce Anstey, der die insgesamt 364,35 Kilometer lange Strecke durch Ortschaften, vorbei an Häusern, Mauern, Bäumen, Laternenmasten und Randsteinen, über Brücken und Kuppen, auf Fahrbahnbelägen unterschiedlichster Qualität mit einer Durchschnittsgeschwindigkeit (!) von 207 km/h absolvierte. Sturzräume gibt's keine – wenn's kracht, ist der Mythos gnadenlos.

Ein paar Renn-Impressionen der IOM TT 2015 (Dia-Show):

"Man muss nicht verrückt sein, um hier zu fahren, aber es hilft", grinste Anstey, der mit 45 zu einem neuen Streckenrekord raste. Neben den Superbike-Rennen, mit denen die Rennsportwoche der TT jeweils eröffnet und abgeschlossen wird, stehen noch Seitenwagen-,  Superstock- und sogar Elektromotorrad-Rennen (TT Zero Challenge) auf dem dicht gefüllten Terminkalender. Schon früh am Morgen sichern sich die ersten Fans die besten Plätze entlang der Strecke, um den Wahnsinn auf öffentlichen Straßen hautnah miterleben zu können, Sonntags wird traditionell nicht gefahren. Und doch geschehen mehr Un- bzw. Todesfälle als an normalen Renntagen: Beim "Mad Sunday" wird die gesperrte Strecke für jedermann freigegeben, um einmal – ohne jegliche Geschwindigkeitslimits – Motorrad-Rennfahrer spielen zu können. Wer dabei gegen die vorgegebene Fahrtrichtung fährt, auf den warten freilich drakonische Strafen, bis hin zum Gefängnis. Ähnliches gilt übrigens für Zuschauer, die sich während eines Rennens auf den gesperrten Straßen bewegen. Ich hätte während meines beruflichen Aufenthalts extra dafür eine Ducati Monster 1200 bekommen, weil jedoch das samstägige Rennen wegen Sturms auf Sonntag verschoben werden musste, entfiel der Mad Sunday. Ich hab's verkraftet, vor allem im Hinblick auf den Verkehr, der auf der Strecke zu erwarten gewesen ist – sowie die unzähligen Hobby-Rossis, -Dunlops und -McGuinness…

Das geilste Bike im TT-Starterfeld war in meinen Augen die Norton des symphatischen Australiers Cameron Donald.


Doch die Rennen sind das eine, die gesamte Atmosphäre das andere, was diese Veranstaltung derart einzigartig macht. Und so auch zu einem reizvollen Ziel für jene Motorradfahrer, die nicht unbedingt viel mit Rennsport am Hut haben. Denn während der Tourist Trophy gleicht die gesamte Insel einer riesigen Motorrad-Messe, ähnlich dem Harley-Treffen in Velden, nur mit praktisch allen möglichen Varianten von zwei- und dreirädrigen Fortbewegungsmittel, von der Hard-Enduro bis zum aufgemotzten Trike, vom Klassiker bis zum hypermodernen Superbike, von Eigenkonstruktionen bis zur Werksmaschine, und, und, und…

Ein paar Stimmungs-Impressionen der IOM TT 2015 (Dia-Show):

Fazit: 

Es war eine spannende Dienstreise, für die "Krone" von der Isle of Man TT 2015 zu berichten, selbst ohne Motorrad. Ich bin schon bei vielen Motorsportveranstaltungen gewesen, von der Neuseeland-Rallye am anderen Ende der Welt bis zur Moto GP quasi vor der Haustür in Brünn – das Flair, von dem dieses fast schon legendäre Straßenrennen umgeben wird, ist aber einzigartig. Nicht nur, weil es einem kalt über den Rücken läuft, wenn diese Verrückten an Hausmauern vorbeijagen, als gebe es kein Morgen. Abartig. Nicht umsonst hatte selbst ein Valentino Rossi dankend abgewunken, als er 2009 eine Runde zu Show-Zwecken fuhr und dabei eingeladen wurde, bei der TT zu starten: „Zu gefährlich!“ Sie sind auch wirklich ganz spezielle Typen, diese Road-Racer, mit Ausnahme des mehrfachen Supersport-Weltmeisters Carl Fogerty fällt mir jetzt kein Großer der Rundstrecke ein, der es am "Mountain Course" ganz rauf aufs Siegertreppchen geschafft hätte. Jede von diesen Mauern an der Strecke, jeder Randstein kann seine eigene Geschichte erzählen, an vielen klebt Blut, das der „Tourist Trophy“ erst ihren Mythos verlieh. „It’s epic – es ist gewaltig“, sagt John McGuinness. Dem muss man nicht viel hinzufügen.

Außer vielleicht die Anmerkung, dass die IOM TT für Motorrad-Enthusiasten auch dann eine Reise wert ist, wenn sie mit Motorsport nur wenig anfangen können: Weil sie auch einfach ein Treffen von Motorradfahrern völlig unterschiedlichstem Coleur ist, mit einer ganz speziellen, positiven Stimmung. Weshalb ich bestimmt wieder kommen werde, am liebsten auf eigener Achse mit dem Tiger. Vielleicht lässt sich ja schon die für 2016 geplante Tour durch die schottischen Highlands damit verbinden.

Drei coole Jungs auf einem Bild: Mit Speedway-Weltmeister Greg Hancock und John McGuinness
Drei coole Jungs auf einem Bild: Mit Speedway-Weltmeister Greg Hancock und John McGuinness

© 06/2015