Sportlich. Leise. Harley-Davidson? Ja, richtig gelesen. Irgendwie hatte man die Marke nicht wirklich auf dem Plan, wenn es um die Antwort auf die Frage ging, welcher namhafte Hersteller wohl als erster ernsthaft auf Elektro-Motorräder für die Straße setzen werde. Schließlich denkt man bei Harley-Davidson sofort an laute, bollernde V2-Motoren, an den Geruch von Benzin, Freiheit und Rebellion, aber weniger an Sportlichkeit und schon gar nicht an Elektromobilität. Und zugegebenermaßen bin auch ich nicht der typische Harley-Davidson-Fahrer. Aber zum einen blickte ich immer schon gerne über den Tellerrand und zum anderen haben die Marketing-Strategen aus Milwaukee mit der neuen LiveWire ja auch nicht (nur) den klassischen Harley-Fahrer im Visier…
2010 hatte man in den USA mit der aufwändigen Entwicklung des Motorrads begonnen, im September 2019 wird es nun bei den Händlern stehen. Die Spannung unter den Journalisten bei der Präsentation in Portland/Oregon überstieg sogar jene des mächtigen 15,5 KWh-Hochleistungsakkus um einiges: Wie sie sich wohl anfühlt, wie sie sich fährt, die LiveWire von Harley-Davidson? Schon der Anblick sticht ins Auge, speziell in den beiden matt lackierten Farbgebungen Orange Fuse und Yellow Fuse, in denen sie neben dem klassisch schwarz glänzenden Vivid Black erhältlich sein wird. Natürlich sind Geschmäcker verschieden, aber da stand ein rundum stimmiges Motorrad vor uns, wertig verarbeitet, mit jeder Menge pfiffiger Details.
Die Frontmaske im typischen Harley-Davidson-Design kann ihre Herkunft schwer verleugnen, der Rest ergibt aber doch ein völlig neues Erscheinungsbild. Herzstück bzw. Mittelpunkt des Motorrads bildet der 120 Kilo schwere Akku mit an luftgekühlte Verbrennungsmotoren erinnernden Kühlrippen, der mit dem Alu-Gussrahmen verschraubt ist und so eine tragende Rolle einnimmt. Direkt darunter ist der "H-D Relevation" getaufte Permanentmagnet-Elektromotor platziert, darüber eine Tank-Attrappe, die den typischen Motorrad-Look komplettiert. Wie beim V-Twin der klassischen Harley-Davidson-Bikes ist auch hier der im hellen Gehäuse verpackte Motor der Hingucker. Das schlanke, frei fliegende Heck rundet das sportliche Erscheinungsbild ab.
Und sportlich bleibt es auch im Sattel der LiveWire. 106 PS leistet der Elektro-Murl, was aber noch viel spannender ist: Das Drehmoment von 116 Newtonmetern steht IMMER zur Verfügung und sorgt so im wahrsten Sinne des Wortes im Handumdrehen jederzeit für satte Beschleunigung bzw. ein breites Grinsen unter dem Helm. Ich behaupte einmal, dass kaum ein Motorrad vergleichbarer Leistung mit Verbrennungsmotor bei der engagierten Kurvenhatz eine Chance gegen die LiveWire hat, da müsste man sich schon ständig im optimalen Drehzahlband bewegen, was in der Praxis schier unmöglich ist.
Wer forsch Gas gibt, muss auch entsprechend ankern und da bleiben bei der Brembo-Anlage keine Wünsche offen: Die beiden 300-Millimeter-Doppelscheiben mit Monoblock-Bremszangen verzögern die Harley auf Power-Nakedbike-Niveau. Auch beim vorne und hinten voll einstellbaren Fahrwerk von Showa ging man keinerlei Kompromisse ein. Das arbeitet präzise, lässt einen aber in seiner sportlichen Grundeinstellung Fahrbahn-Unebenheiten oder Kanaldeckel doch recht deutlich spüren. Die Michelin Scorcher-Reifen mit Harley-Davidson-Branding funktionieren im Touren-Modus wunderbar, sind nach amerikanischen Gesichtspunkten aber in erster Linie auf Laufleistung ausgelegt und werden meiner Meinung nach der tollen Performance des Motorrads nicht ganz gerecht – wer die Qualitäten der LiveWire bis wirklich zum Limit ohne Bauchweh auskosten will, wird früher oder später zu einem Sport- bzw. Sporttouringreifen greifen. Was aufgrund der klassischen Dimensionen von 120/70ZR17 vorne bzw. 180/55ZR17 hinten aber kein Problem darstellt.
Punkto Sicherheitsfeatures hat die LiveWire alles mit an Bord, was heutzutage State of the Art ist, als erste Harley kommt sie diesbezüglich mit dem vollen Elektronik-Programm daher: Kurven-ABS ist ebenso Serie wie eine (abschaltbare) schräglagenabhängige Traktionskontrolle, Wheelie- und Stoppie-Control. Dazu kann man gleich zwischen sieben (!) Fahrmodi wählen. Fix voreingestellt sind "Sport", "Road", "Rain" und "Range", die sich durch die Intensität von "Power" (Beschleunigung), "Throttle Control" (Gasannahme), "Traction Control" (Traktionskontrolle) bzw. "Throttle Response" (Motorbremswirkung) unterscheiden. Diese Motorbremswirkung im Schiebebetrieb wird übrigens gleich dazu genutzt, die Batterie nachzuladen, insbesondere im Stop-and-go-Verkehr in der Stadt. Der Sport-Modus sorgt wenig überraschend für den größten Fahrspaß, die Beschleunigung in wirklich jeder Lebenslage ist richtiggehend süchtig machend, der Road-Modus soll den Fahreigenschaften von Verbrennungsmotoren am nächsten kommen, im Regenmodus ist die Gasannahme dezent und die Traktionskontrolle in der höchsen Stufe (von drei) und der Range-Modus ist auf die höchstmögliche Reichweite ausgelegt, also auch eher zurückhaltend. Einigermaßen gewöhnungsbedürftig ist neben den fehlenden Vibrationen und der niedrigen Geräusch-Kulisse (wenngleich der LiveWire-Sound beim Vorbeifahren ein wenig an jenen eines Düsenjets erinnert) unterwegs auch das Fehlen von Kupplung bzw. Ganghebel auf der "arbeitslosen" linken Seite. Vorder- bzw. Hinterradbremse sind klassisch mit der rechten Hand bzw. dem rechten Fuß zu bedienen.
Die entscheidende Frage bei Elektro-Fahrzeugen lautet jedoch: Wie weit kommst du? Je nach Fahrstil (und auch Fahrmodus) beträgt die Reichweite der LiveWire zwischen 150 und 230 Kilometer, bei unserer Ausfahrt im Umland von Portland lag sie im unteren Bereich der angegebenen Werte. Aufgeladen ist der Akku in nur einer Stunde, schon 40 Minuten reichen aus, um 80 Prozent der Kapazität zu erreichen. Wer jetzt plant, mal rasch über schöne Strecken in die Kalte Kuchl zu fahren und dort die Batterie wieder aufzuladen, während er einen Topfinger verdrückt, hat die Rechnung jedoch ohne den Wirt gemacht. Nicht jenem vom beliebten Biker-Treffpunkt in Ostösterreich, sondern der Tatsache, dass man für diese Ladezeiten eine sogenannte DC-Fast-Charge-Ladestation benötigt. Solche gibt es bei ausgewählten Tankstellen oder aktuell bei rund 250 Harley-Davidson-Händlern in den USA und Europa, künftig sollen alle, die die LiveWire im Programm haben, damit ausgestattet sein. Und Käufer eines Elektromotorrads können dann beim Harley-Händler zwei Jahre lang kostenlos Strom "tanken". Mit einer herkömmlichen Steckdose dauert der Ladezyklus jedoch erheblich länger: Eine Stunde für rund 20 Kilometer Reichweite, zehn Stunden für den vollen Hochleistungsakku – daheim lässt sich das leer gefahrene Motorrad also über Nacht wieder aufladen. Weshalb die LiveWire in der Praxis wohl eher noch fürs urbane Umfeld oder die flotte Nachmittagsrunde, weniger jedoch für wirkliche Touren geeignet ist – zumindest müsste bei solchen das Ladestationen-Netz mit einkalkuliert werden…
Die "Steckdose" ist übrigens stilvoll dort verpackt, wo normal der Tank-Deckel sitzt – wie die LiveWire überhaupt mit etlichen erfrischenden Details aufwarten kann. Etwa dem als "Herzschlag" bezeichnenden Pulsieren des Motorrads im Stillstand bei eingeschaltenem Motor, damit man daran erinnert wird, dass die Post sofort abgeht, wenn man am Gasgriff dreht. Das 4,3-Zoll-Farbdisplay ist gut ablesbar, liefert unterwegs alle relevanten Infos und kann sowohl per Touchscreen, als auch über das Menü am Lenker bedient werden. In Verbindung mit der Harley-Davidson-App wird es zur Multifunktionszentrale für Musik oder Navigation bzw. können über das Smartphone auch jede Menge Informationen abgerufen werden. Ob der Ladezustand der Batterie, die nächstgelegenen Schnelllade-Stationen oder sogar Diebstahlschutz mit Bewegungsmelder bzw. Ortungsfunktion – alles ist dabei. LED-Rundumbeleuchtung versteht sich ohnehin von selbst.
Das Gewicht von knapp 250 Kilo spürst du übrigens nur beim Rangieren, sobald man damit fährt, ist die LiveWire agil. Dazu trägt auch die gute Ergonomie bei, die Sitzposition ist relativ sportlich, da der Abstand zum Lenker groß ist, die Sitzbank zwar kein Wunderding an Komfort aber ausreichend bequem auch für längere Etappen. Harley-Davidson gibt die Radlastverteilung mit 51:49 an, gefühlt ist das Motorrad aber doch eher Vorderradlastig, verlangt beim Einlenken auch nach einer gewissen Entschlossenheit. Was dann auch mit Kurvenspaß auf richtig gutem Naked-Bike-Niveau honoriert wird.
In der Wartung ist ein Elektromotorrad günstiger als herkömmliche mit Verbrennungsmotor, gibt es doch weder Ölwechsel, noch Zündkerzen oder Luftfilter – dafür hat es die Anschaffung noch in sich. 33.390 Euro ruft Harley-Davidson in Österreich dafür aus, weil die Nova wegfällt, ist der Preis in Deutschland (32.990 plus Nebenkosten) fast ident. Das ist schon einiges Holz für ein reines Umweltgewissen, es steckt aber auch jede Menge an Entwicklungsarbeit in der LiveWire und auch Elektro-Autos sind nach wie vor teurer als ihre benzinbetriebenen Pendants.
+ Das Drehmoment steht jederzeit in vollem Ausmaß zur Verfügung
+ Die Bremsen von Brembo sind auf Top-Naked-Bike-Niveau
+ Das Fahrwerk ist präzise und voll einstellbar
– Die Reichweite ist zwar für Elektro-Bikes gut, aber immer noch ein Manko
– Die Ladezeit ist ohne DC-Fast-Charge-Station für unterwegs nicht praxisgerecht
– Der hohe Anschaffungspreis ist schon eine Herausforderung
Fazit:
Schlappe drei Sekunden benötigt die LiveWire von 0 auf 100, lediglich 1,9 für den Spring von 60 mph (96,6 km/h) auf 80 mph (128,8 km/h) – Werte, die dir ein Dauergrinsen unter den Helm zaubern und genauso süchtig machen, wie eben dieses jederzeit verfügbare volle Drehmoment: Einfach am Gas drehen und die Post geht ab, falschen Gang gibt's nicht. An der anderen Hand gibt es aber auch keine Vibrationen, ist man weit entfernt vom eingangs erwähnten Mythos, der die Marke Harley-Davidson immer schon umgibt, samt Benzingeruch und Geräuschkulisse. An das düsenjägerartige Pfeifen des H-D Relevation muss man sich erst noch gewöhnen. Womit man auch gut beraten ist. Denn die LiveWire ist nur der erste Vorbote dessen, was da in den nächsten Jahren noch alles auf uns zukommen wird, soll eine immer breiter werdende Produktpalette an Elektromotorrädern aus dem Hause Harley-Davidson einläuten, mit denen man neue, auch jüngere Käuferschichten erreichen will. Hand in Hand dazu geben die Amerikaner aber auch in anderen Bereichen Gas, um sich breiter aufzustellen, werden demnächst noch eine große Reise-Enduro oder ein sportliches Nakedbike vom Band laufen. Es bleibt spannend überm großen Teich.
© 07/2019
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Mark Twain
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