Nachdem ich letztes Jahr eine vom Fernreisespezialisten Touratech vollausgestattete KTM 1190 Adventure ausgiebig bewegen konnte, war jetzt die R-Version des neuen Reiseflaggschiffs aus Mattighofen an der Reihe. Und obwohl die beiden Modelle nicht nur denselben Motor, sondern ca. 80 Prozent aller Bauteile gemeinsam haben, wird schon auf den ersten Blick klar: Das ist ein anderes Motorrad, eines, dass sich das Wort "Adventure" nicht nur so einfach von den Marketingexperten auf den Tank schreiben ließ, weil sich dies in Zeiten wie diesen so gut verkauft…
Über den Sinn oder Unsinn von 150 PS in einer Enduro kann man natürlich geteilter Meinung sein. Keine Diskussion aber: Das Ding macht mächtig Spaß, wenn man am dank "Ryde by Wire" leichtgängigen Gashebel dreht! Das zaubert ein breites Grinsen unter den Helm, bietet in jeder Fahr- bzw. Lebenslage Leistungsreserven im Überfluss und animiert zu sportlicher Fahrweise. Dabei lässt es sich mit diesem aus dem Supersportler 1190 RC8 R "gezähmten" Motor auch vortrefflich cruisen, da ruckelt selbst im dritten Gang nichts mehr bei langsamen Kurven, wartet KTM mit einer Laufkultur auf, die man bislang von den Orangenen auf diesem Niveau nicht kannte.
Dies alles habe ich freilich auch schon im Test der 1190 Adventure gelobt. Wo liegen also, abgesehen von der hausüblichen weiß-schwarz-orangenen R-Lackierung, die Unterschiede? Schon die Wahl der Räder zeigt, wo die Reise hingehen soll, das 21-Zoll-Vorderrad und die 18-Zoll-Variante hinten machen auch vor unwegsamem Geläuf nicht halt. Verbunden mit einem plus von 30 mm an Federweg (vorne und hinten jeweils 220 mm gegenüber den 190 mm des Standardmodells) erhöht das die Geländetauglichkeit ungemein. Das alles ergibt eine Bodenfreiheit von 250 mm (Adventure 220 mm) und in weiterer Folge eine Sitzhöhe von 890 mm (gegenüber 860-875). Mit meinen 1,76 m Körpergröße muss ich da die Zehenspitzen schon gehörig strecken, um von der an der R ungeteilten und auch auf langen Etappen nicht unbequemen Sitzbank festen Untergrund zu berühren. In der Praxis reicht dem geübten Motorradfahrer beim Halt aber ohnehin ein Bein auf dem Boden.
Und für ungeübte Fahrer wäre dieses Teil sowieso die falsche Wahl. Obwohl es ab 2014 mit dem neuen MSC von Bosch, dem allerersten Schräglagen-ABS fürs Zweirad, das vielleicht sogar sicherste Motorrad auf dem Markt ist. Die knapp 400 Euro Aufpreis sollten beim ohnehin schon happigen Anschaffungspreis von (in Österreich) stolzen € 18.101,00 auch nicht mehr ins Gewicht fallen und sind definitiv bestens angelegt. Auch wenn mir der Mumm fehlte, bei schleifenden Fußrasten voll in die Bremsen zu greifen, so ließen mich die von Kurve zu Kurve forscher werdenden Bremsversuche bei Schräglage doch immer wieder staunen, wie gut dieses System arbeitet – eine Stabilitätskontrolle übers ABS, wenngleich die Gesetze der Schwerkraft auch von KTM oder Bosch nicht umgangen werden können. Dies sei nur angemerkt, um vor Übermut zu warnen – wer zu schnell dran ist, fliegt mit MSC genauso aus der Kurve, wenn auch vielleicht einen Tick später. Dass KTM allen Käufern der 2013er-Modelle die Möglichkeit bietet, ihr Motorrad zum normalen Zubehör-Preis nachzurüsten, ist lobenswert, hätte ich eine 1190 Adventure (ob mit oder ohne "R") daheim, ich würde nach den gemachten Selbst-Versuchen keine Sekunde zögern.
MSC wird für beide Modelle angeboten, also zurück zur R: Wer den Umgang mit einem schmalen 21-Zoll-Vorderrad gewohnt ist, wird auch auf der flotten Kurvenhatz den Pass hinauf nicht viel auf den Kollegen mit der Standard-Adventure verlieren, auf unbefestigten Wegen aber die Vorteile desselben schätzen. Ob mit 100 km/h durchs Tiefental oder gemächlich durch die Schotterkehren der Steinwandklamm – die R machte alles souverän bzw. willig mit und ließ mich erahnen, dass sie offroad noch um einiges mehr drauf hat, als der auf dem Sattel. Was man von dem serienmäßig aufgezogenen Conti Trail Attack 2 nicht behaupten kann. Dieser ist auf Asphalt ein toller Reifen, der rasch auf Temperatur ist, gutmütig die Spur hält und Grip für Schräglagen bis auf die Rasten bietet, abseits davon aber nicht viel mehr als den Feldweg hinterm Weingarten drauf hat, speziell wenn's feucht wird. Ein geländegängiger "Kompromissreifen" vom Schlage eines Heidenau K60 Scout, Metzeler Karoo 3 oder auch Conti TKC 80 würde der R weit besser zu Gesicht stehen, ohne dass sie dadurch auf der Straße zur Krücke verkommt. Wie bei der neuen BMW 1200 GS können die Speichenräder der KTM übrigens mit schlauchlosen Reifen bestückt werden.
Die weiteren Eindrücke: Das kleine Windschild bietet selbst bei zügigem Tempo guten Schutz, die Fußrasten genug Aufstandsfläche, um auch längere Etappen bequem stehend zu fahren, die schon im Vorjahr gelobten vier Fahrmodi (Sport, Street, Rain & Offroad) arbeiten hervorragend und lassen den Fahrer den Unterschied wirklich spüren (im Rain- bzw. Offroadmodus sind jeweils "nur" 100 PS verfügbar), die Bedienung am übersichtlichen Dislplay ist einfach und selbsterklärend, der analoge Drehzahlmesser ebenso gut abzulesen wie der digitale Tacho. Der am Testmotorrad montierte Akrapovic-Endschalldämpfer aus dem Power Parts Programm sieht nicht nur besser aus als das Original, sondern verleiht dem Moped auch jenen Klang, der ihm zusteht. Und das selbstredend voll einstellbare Fahrwerk, schon in der normalen Adventure ausgezeichnet, ist wirklich vom Allerfeinsten, bügelte auf meiner "Normrunde" über das Kopfsteinpflaster der Wiener Höhenstraße sämtliche Unebenheiten weg wie nix, so dass ich gar nicht mehr runter bzw. Richtung Dopplerhütte abbiegen wollte…
Fazit:
Ob nun KTM 1190 Adventure oder 1190 Adventure R liegt – neben subjektiven Begründungen wie der Optik bzw. praktischen wie der Sitzhöhe – vor allem im Einsatzbereich. Natürlich sind auch mit dem Standard-Modell Ausflüge ins Gelände möglich, wer sich aber regelmäßig auf unbefestigten Wegen herumtreiben will, wird besser zur R greifen. Mehr Enduro erscheint für ein Motorrad dieser Gewichtsklasse jedenfalls schwer möglich, schon nach wenigen Offroad-Kilometern liest sich die selbstbewusste Ansage auf der KTM-Homepage gar nicht mehr so überzogen: Die 1190 Adventure R ist zweifellos die geländegängigste Zweizylinder-Enduro. Punkt. Steht dort geschrieben. Wird wohl so sein, wenn man's wirklich kann, wenngleich sich die meisten von uns abseits befestigter Wege z.B. mit der handlicheren BMW 800 GS (die Triumph Tiger 800 XC ist ja kein Zweizylinder) wahrscheinlich doch leichter tun. Aber abgesehen davon, dass die rundum gelungene 1190 Adventure R mein Budget ohnehin überschreiten würde, will ich auch diese Gelegenheit nicht auslassen, die KTM-Entscheidungsträger einmal mehr daran zu erinnern, dass sie auch hervorragende Einzylinder-Enduros bauen. Warum also nicht genauso der 690 Enduro R ein reisetaugliches Kleid verpassen, und sei es aus den ohnehin vorhandenen Rallye-Bauteilen als Extras im Power-Parts-Sortiment? Die wären keine Ladenhüter…
© 04/2014
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