Triumph Scrambler 1200 XE • Modelljahr 2019

Keiner nimmt Scrambler ernster

Schon bei der ersten Sitzprobe auf der EICMA letzten November in Mailand hatte sie mich in ihren Bann gezogen. Mann, schaut die gut aus, die neue Scrambler 1200 von Triumph! Da stört kein Detail, ist alles stimmig und auch auf den zweiten Blick hochwertig. Doch wie fährt sich der Hingucker, dem vor der Eisdiele der beste Parkplatz stets reserviert sein müsste? Dies herauszufinden war im Frühling 2019 für zweieinhalb Wochen meine Haupt- bwz. Lieblingsbeschäftigung auf und abseits der Straßen im östlichen Österreich. Also aufsteigen – die 870 Millimeter hohe Sitzbank will erst einmal erklommen werden –  Motor anstarten, losfahren!

Kraftvoll bollert der Twin vor sich hin. Und kraftvoll ist auch die treffende Bezeichnung für den 1200-Kubik-Reihenzweizylinder, der mit 90 PS bzw. stolzen 110 Newtonmetern Drehmoment aufwarten kann und damit in jeder Lebenslage kräftig anzuschieben vermag. Was zu einem durchaus sportlichem Fahrgefühl führt, auch wenn das 21-Zoll-Vorderrad in Verbindung mit den üppigen Federwegen doch eines gewissen Krafteinsatzes bedarf, um in die Kurve einzutauchen. Das breite Drehzahlband punktet jedoch nicht nur auf befestigten Wegen, sondern kommt vor allem auch Handling bzw. Fahrverhalten abseits davon zu Gute. Und genau dafür ist dieses Motorrad auch gemacht, wenn man's denn übers Herz bringt, die Schöne auch wirklich schmutzig zu machen…

Das beginnt bei den mächtigen Federwegen von vorne wie hinten 250 Millimeter. Vorne arbeitet eine 47-Millimeter-Upside-Down-Gabel von Showa, hinten ein Öhlins Zwillings-Federbein, beides voll einstellbar und von einer Güte, wie sie in Reiseenduros nur äußerst selten vorkommen. Grobes Gestein oder felsige Stufen kosten diesem Fahrwerk einen müden Grinser, selbst Sprünge würde das Motorrad locker wegstecken. Da geht Offroad definitiv mehr, als man einem "Modern-Classic-Bike" zutrauen mag, ich würde sagen auf richtig gutem Reiseenduro-Niveau, vergleichbar mit Tiger 800 (XC) & Co., schließlich bewegt man sich auch Gewichtsmäßig in dieser Fahrzeugklasse.

Wem diese Ausrichtung zu radikal bzw. auch die dadurch bedingte, erwähnte Sitzhöhe zu herausfordernd ist, der könnte in der Scrambler 1200 XC die für ihn passend Wahl finden. Die kommt mit jeweils 200 Millimeter Federweg und einer Sitzhöhe von 840 Millimeter aus, was immer noch für fast alles ausreicht, was man (sich mit) diesem Motorrad zutrauen wird und auf der Straße mehr Präzision bietet. An sich bürgt dieses "Cross-Country"-Kürzel bei Triumph ja schon für gute Performance abseits befestiger Wege, mit der XE (E für Extreme) setzen die Engländer allerdings in allen Belangen noch einmal einen drauf.

Wobei nicht nur die Federwege für den breiten Einsatzbereich und Robustheit stehen, sondern auch die übrigen verbauten Komponenten. Etwa diese massiven, wertigen Handguards mit Metallverstärkung (warum spendiert Triumph die eigentlich nicht auch den Tiger-Modellen?!), ordentliche Fußrasten mit breiter Aufstandsfläche, einklappbare Schalthebel und Bremspedale, einem soliden Motorschutz sowie natürlich auch die gewählte Dimension der (Speichen)-Räder mit offroad-affinen 21 Zoll vorne und 17 hinten.

All das macht zwar keine Hardenduro aus der Triumph Scrambler 1200 XE, die vollgetankt doch stolze 220 Kilo auf die Waage bringt und deren hoher Schwerpunkt speziell in heiklen Gelände-Passagen nach einer routinierten Hand verlangt – trotzdem schreit dich dieses Motorrad förmlich ständig an: Runter von der Straße! Erst wenn es staubt, wird man damit so richtig eins, vergisst den Alltag um einen herum und bekommt das Grinsen unterm Helm gar nicht mehr weg. Der Stoff, aus dem Drogen sind, Suchtpotential.

Das nostalgischen Kleid, in dem die Scrambler 1200 XE daherkommt, ist allerdings ein "Etikettenschwindel", muss man doch auf nichts verzichten, was im modernen Motorradbau anno 2019 für Sicherheit und Komfort sorgt: (abschaltbares) Kurven-ABS sowie kurvenoptimierte, (individuell einstellbare) Traktionskontrolle sind da genauso mit an Bord, wie Tempomat, Heizgriffe, LED-Rundum-Beleuchtung, USB-Ladebuchsen und, und, und. Die sechs verschiedenen Fahrmodi funktionieren wie sie sollen, indem sie für den jeweiligen Einsatzbereich Intensität von Gasannahme und Traktionskontrolle aufeinander abgestimmt kombinieren: Road, Rain, Offroad, Sport sowie ein frei konfigurierbarer Rider-Mode, in dem die persönlichen Einstellungen gespeichert werden können, sind sowohl bei der XC als auch der XE Serie. Letztere hat zusätzlich noch den schon aus den Tiger-Topmodellen bekannten Offroad-Pro-Mode an Bord, mit dem es sich auch im Drift um die Ecke bewegen lässt. Anwählbar ist alles über den Joystick an der linken Hand sowie ein Menü, in dem man sich rasch zurecht findet, ablesbar an der stimmigen, das nostalgische Bild kaum störenden, Farb-TFT-Instrumenteneinheit, deren Erscheinungsbild aus sechs verschiedenen Varianten auswählbar ist (alle jeweils hell oder dunkel, wobei es dafür auch einen Automatik-Modus gibt). Dass man über die Triumph-App auch sein Smartphone damit verbinden kann und sich so unterwegs Navigation, Telefon, Musik oder sogar die GoPro-Kamera steuern lässt, sei hier nur am Rande erwähnt, weil nicht ausprobiert.

Sehrwohl überzeugt habe ich mich von der Funktion der Bremsen, die genauso kräftig zupacken, wie es dieses Motorrad erwarten lässt und trotzdem offroad nicht zu giftig sind. Wofür vorne zwei 320-Millimeter, hinten eine 225-Millimeter Scheibe verantwortlich zeichnen. Mittels neuestem Brembo-MCS-Bremshebel lässt sich sogar das Hebel-Übersetzungsverhältnis einstellen.

Natürlich bist du beim Fahren mit der Scrambler Wind und Wetter ausgesetzt, weshalb der Reisekomfort damit auch nicht an jenen von Reiseenduros herankommt. Der angenehme Kniewinkel und der breite Lenker sorgen aber für eine entspannte Sitzposition, die Sitzbank ist auch für lange Touren am Stück bequem genug. Lediglich die Hitzeentwicklung durch den hohen Auspuff ist störend und kann beim Stop- and Go im Stadtverkehr mit dünner Hose schon mal richtig unangenehm werden. Sobald man aber fährt, ist das kein Problem mehr –und das Ding fährt sich richtig gut! Ob einfach dahincruisen oder auch sportlich durch kurviges Geläuf, wo man erst relativ spät vom Kratzen der Angstnippel an den Fußrasten erschreckt wird. Auch zu zweit ist man mit diesem Motorrad entspannt unterwegs.

 

"Es stimmt, es gibt bequemere Sitzbänke als jene auf der Triumph Scrambler 1200 XE, trotzdem sind auch längere Etappen kein Problem hinten drauf. Zum einen ist das Platzangebot gut, fühlt man sich nie beengt, zum anderen empfand ich auch den Kniewinkel angenehm. Und dass der Wolf keinen Windschutz auf der Autobahn hat, ist sein Problem – ich hab ja meinen mit ihm! Weil es ein Thema war auch noch kurz zur Hitzeentwicklung des hohen Auspuffs: Für den Sozius ist alles ok, das Schutzblech ausreichend."


Dank Keyless-Go-System braucht man den Schlüssel zum Anstarten und Fahren nur noch bei sich tragen und lediglich fürs Betätigen der Lenkradsperre oder zum Tanken aus der Hosentasche nehmen. Apropos Zwischenstopp an der Tankstelle: Im Test hat sich die kräftige Scrambler im Durchschnitt mit 5,3 Liter Super auf 100 Kilometer begnügt, was in Verbindung mit dem 16-Liter-Tank Reichweiten von knapp 300 Kilometer errechnen lässt.

Als Serienbereifung hat sich Triumph für den bewährten Tourance (ohne Next) von Metzeler entschieden. An sich ja eine passende Wahl, weil der Gummi auch auf Schotter recht gut funktioniert und auf der Straße ausreichend Grip bietet – ich persönlich hätte mir zu diesem maskulinen Motorrad aber schon der Optik wegen etwas grobstolligeres vom Stile eines Michelin Anakee Adventure, Conti TKC 80 oder zumindest Pirelli Scorpion Rally STR gewünscht. Lässt sich aber ohnehin spätestens beim ersten anstehenden Reifenwechsel auf die persönlichen Vorlieben "korrigieren".

+ Die Verarbeitung ist bis ins Detail durchdacht und hochwertig

+ Der Motor ist durchzugsstark  und in jeder Lebenslage souverän

+ Die Federwege sind unpackbar und bügeln alles locker weg

– Die Hitzeentwicklung ist durch den hohen Krümmer am rechten Bein störend

– Wind- und Wetterschutz sind praktisch nicht vorhanden, worunter die "Reisetauglichkeit" leidet

– Für Offroad eigentlich fast zu schade



Fazit:

Klotzen, nicht kleckern! Mit der Scrambler 1200 XE hat Triumph ein wunderbar "unvernünftiges" Motorrad auf die Speichenräder gestellt, das an der einen Hand Ursprünglichkeit, Individualiät und Freiheit suggeriert, an der anderen aber auch so ziemlich alle nur denkbaren technischen Features impliziert bekam, die man sich bei einem modernen Bike wünschen kann. Mit einem Fahrwerk, das es bislang in dieser Fahrzeugklasse nicht gab und einem Motor, der in jeder Situation über ausreichend Kraftreserven verfügt. Trotzdem bleibt alles stimmig und bist ins kleinste Detail wertig verarbeitet.

Für wen sie nun die Richtige ist? Kaum einer wird etwa diese mächtigen Federwege wirklich brauchen, der Haben-Wollen-Effekt wird aber gerade wegen solcher Gimmicks nur noch größer. An Liebhabern wird es der Schönheit folglich nicht mangeln – zumal die Britin ja auch kann, wenn sie will, keiner das Thema Scrambler, das vom englischen Wort für "klettern" kommt, ernster nimmt. Das alles hat jedoch auch seinen Preis, der mit 17.900 Euro in Österreich für die XE doch schon in der gehobenen Reiseenduro-Liga mitspielt. Alternativ dazu gibt es die in allen Belangen "vernünftigere" XC, die aber immer noch genügend Emotionen wecken und am Stammtisch punkten kann, bereits um 16.700 Euro. Platz in der Garage wird sich finden lassen.

© 05/2019