Yamaha Tracer 900 • Modelljahr 2017

Multitalent

Motorradfahren verbindet. Das beginnt beim gegenseitigen Grüßen auf der Straße und setzt sich bei den Benzingesprächen im Wirtshaus auf der Passhöhe fort. Und doch stecken wir die Fahrer gerne in Kategorien, je nachdem auf welcher Art von Motorrad sie sitzen. Da sind die "Gebückten", die ihre Supersportler treiben, die jungen Wilden auf den Supermotos, die Tourenfahrer oder die immer größer werdende Zahl an Reise-Enduristen, Naked-Bike-Treiber, neuerdings die Liebhaber moderner Retro-Bikes und nicht zu vergessen die Harley-Szene und ihre Auswüchse…

…doch in welche Schublade passt nur die Tracer 900? Gar nicht so einfach. Yamaha führt sie auf der offiziellen Website unter den Sport-Tourern, im Vergleich zur dort ebenfalls geparkten FJR 1300 ist der wendige Triple aber trotz des mehr oder weniger gemeinsamen, markanten Gesichts, ein echter Kurvenräuber. Gut für die Spritztour, aber ebenso gewappnet für die Urlaubstour. Weil unter dem Tank mit dem aus der MT-09 bekannten Dreizylinder ein Triebwerk arbeitet, das praktisch immer satt am Gas hängt, sowohl schaltfaul und gemütlich gefahren werden kann, als auch auf Angriff: Da ist das drehmomentstarke Aggregat dann so richtig in seinem Element – und bleibt dennoch auch für den Normalverbraucher einfacher zu fahren, als etwa die "nackerte" Schwester. Und das Beste: Das Fahrwerk (mit progressiven Gabelfedern) ist mit den bemerkenswerten Fahrleistungen nie überfordert, zumindest solange man auf halbwegs guten Straßen bleibt. Stabil und unbeirrt zieht die Yamaha da ihre Spur, ob flotte, langgezogene Kurve oder enge Kehre, durch die Anti-Hopping-Kupplung verkommt selbst das flotte Runterschalten vor der Kurve nicht zum Rodeo-Ritt. Und auch das Kopfsteinpflaster der Wiener Höhenstraße steckten die Federelemente noch weg – erst wenn es richtig flott über Schotterstraßen oder Schlaglöcher geht, merkt man dass der Federweg von 137mm vorne und 130mm hinten nicht der einer Enduro ist, schlägt das Fahrwerk durch. Trotzdem sind Feld- und Schotterwege prinzipiell kein Problem. 

Die mächtigen Handprotektoren, die auch in Star-Wars-Filmen eine Rolle bekommen würden, sind beim Durchschlängeln im engen Großstadtdschungel mitunter etwas hinderlich, das übersichtliche Multifunktionsdisplay lässt sich verkehrssicher vom Lenker aus bedienen und liefert dem Fahrer alle nur denkbaren Informationen: Von zwei Trip-Zählern über durchschnittlichen und momentanen Kraftstoffverbrauch, Restreichweite, Außentemperatur, Ganganzeige, und, und, und…

…selbstverständlich auch den gewählten Fahrmodus. Deren die Tracer drei offeriert, zwischen denen man auch während der Fahrt switchen kann – hierfür muss nur kurz der Gashahn geschlossen werden. Neben dem durchaus empfehlenswerten Standard-Modus noch die Stufen A und B: Bei A reagiert die Tracer richtig sportlich auf die Befehle der rechten Hand, weshalb ich ihn im Winkelwerk des Wienerwalds rasch als A-ngriffs-Modus schätzen gelernt habe, im B-Modus läuft alles etwas gemächlicher und runder, was speziell auf feuchter Fahrbahn hilfreich sein kann, aber je nach Fahrertyp durchaus auch im "Normalbetrieb" zur bevorzugten Wahl werden könnte. Das muss man am besten selbst durchprobieren, die vollen 115 PS stehen jedenfalls in allen drei Modi zur Verfügung, und der Unterschied zwischen den einzelnen Setups ist gut spürbar.

So wie auch das Eingreifen der zweistufigen Traktionskontrolle, die bei Bedarf auch ganz weggeschalten werden kann. Wofür ich bei diesem Motorrad, mit dem man ja doch vornehmlich auf Asphalt oder höchstens moderaten Schotterstraßen unterwegs sein wird, aber nur wenig Grund sehe. Zumindest in Stufe 1 regelt es recht dezent, ohne dabei den Spaß zu bremsen, geht trotz Traction Control auch schon mal in der Kurvenausfahrt das Vorderrad leicht hoch. Stufe 2 würde ich eigentlich nur auf nasser Fahrbahn empfehlen, da das System schon beim zügigen Gasgeben eingreift, sportliche Fahrweise praktisch mit "Dauerblinken" im Cockpit begleitet wird. 

Genehmigt hat sich die Yamaha Tracer 900 im Test in Anbetracht der Fahrleistungen vergleichsweise moderate 5,3 Liter Super auf 100 Kilometer – was in Verbindung mit dem 18-Liter-Tank reisetaugliche Reichweiten von jenseits der 300 Kilometer ergibt. Die lassen sich durch die aufrechte Sitzposition im bequemen Sattel wenns sein muss durchaus am Stück aushalten, auch der Windschutz ist ordentlich, einzig auf längeren Etappen bei Autobahngeschwindigkeiten wird sich der eine oder andere eventuell die als Zubehör erhältliche große Scheibe wünschen. Was man nicht nur auf Reisen schätzen wird: Das hervorragende (LED)-Licht, das selbst Nachtfahrten nicht zum Blindflug macht.

 

"Der Kniewinkel auf der Yamaha ist im Vergleich zu den meisten Reiseenduros doch ein wenig angespannt, dennoch haben mir die Ausfahrten mit dem Motorrad Spaß gemacht. Wenn der Fahrer die Tracer durch die Kurven zirkelt, verfällt man auch eine Reihe weiter hinten richtiggehend in einen süchtig machenden Rhythmus. Die Sitzbank ist recht bequem, weshalb auch lange Touren keine Qual sind und ich mir durchaus auch eine Reise zu zweit damit vorstellen könnte – wenn der Wolf bei SEINEM Gepäck spart…

Legende


Dass die bei zügiger Kurvenfahrt regelmäßig schleifenden "Angstnippel" an den schlanken Fußrasten in der gemeinsamen Woche mit der Tracer den einen oder anderen Millimeter verloren haben, ist zu verkraften – der Verschleiß an Zehenschleifern meiner Straßenstiefel wäre auf Dauer aber schon etwas hoch: Ein klein wenig mehr Schräglagenfreiheit würde dem sportlichen Tourenmotorrad daher nicht schaden. Die ab Werk aufgezogenen Bridgestone Battlax S21 harmonieren in meinen Augen jedenfalls sehr gut mit dem Motorrad, lenken präzise ein und sorgen für gute Rückmeldung – ein sportlicher Reifen, der auch bei Regen fahrbar bleibt.


+ Der Dreizylinder besticht durch Charakter, ganz egal ob schaltarm oder im Angriffsmodus bewegt

+ Hauptständer serienmäßig – da könnten sich viele Hersteller von Reisemotorrädern etwas abschauen

+ Fahrwerk lässt punkto Stabilität und Handling keine Wünsche offen

– Dass dieser tolle Motor nicht auch in einer Tenere zum Einsatz kommt – der Triple würde zu Reiseenduro passen

– Die Schräglagenfreiheit dürfte etwas höher sein, die Stiefel würde es danken

– Fahrwerk stößt bei flotter Fahrt über unbefestigte Wege oder sehr schlechte Straßen an seine Grenzen 



Fazit:

Ich mochte schon das "Reisebiest" in Form der KTM 1290 Super Duke GT irgendwie – und auch wenn die Tracer 900 natürlich zumindest eine Liga darunter positioniert ist, so macht das Konzept eines aufrecht zu fahrenden, überaus agilen und trotzdem mit Kofferset und vernünftigem Windschutz tourentauglichen Motorrad gleichermaßen Sinn und Spaß. Wer also hauptsächlich auf Asphalt seine Runden dreht, findet mit der Yamaha ein Multitalent zu einem vernünftigen Preis und mit einem Motor, der süchtig machen kann. Schade eigentlich, dass die Japaner den nicht auch in eine Reiseenduro verpflanzt haben. Wobei (nicht nur) ich sowieso schon gespannt auf die serienreife T7 Tenere mit dem leichteren (Zweizylinder)-Murl der Tracer 700 bin. Von mir aus müsste Yamaha nicht wie derzeit kolportiert bis Ende 2018 mit deren Auslieferung warten…

© 08/2017